Mathematics Beyond Theorems (22. bis 23. März 2012)

Seit Euklid gilt es (jedenfalls in der westlichen Kultur) als ausgemacht, dass das mathematische Wissen in Lehrsätzen artikuliert wird, und dass im Beweis (neuer) Theoreme Wesen und Antrieb der Mathematik liegt. Die heute übliche sehr explizite und formalisierte Art mathematische Forschung mitzuteilen scheint dieses Bild der Mathematik voll zu bestätigen.

Für Historiker – und für Philosophen – der Mathematik wirft dies viele Fragen auf :

1. Was ist denn ein Theorem? Also etwa: Wann sind zwei Theoreme gleich – besonders wenn die zwei Sätze an verschiedenen Zeiten oder Orten des historischen Prozesses auftreten?

2. Wie verhält es sich mit mathematischen Praktiken, die nicht angemessen über Theoreme behandelt werden können?

L. Wittgenstein schlug Ende der 1920er Jahre eine verifikationistische Antwort auf die erste Frage vor. In den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Mathematikhistoriker, angefangen mit H. Sinaceur, C. Gilain, C. Goldstein, die erste Frage in Fallstudien eingehend untersucht. Außereuropäische Mathematiken – angefangen bei Keilschrifttexten, die Verfahren zur Lösung von Aufgaben beschreiben – bieten offensichtliche Beispiele (deren Verständnis im einzelnen alles andere als offensichtlich sein mag) mathematischen Wissens ohne allgemeine Lehrsätze. Dieser Aspekt wurde von Karine Chemla, Jim Ritter und einer Reihe jüngerer Historiker hervorgehoben.

Auch andere nicht algorithmische Phänomene, die einer Theorem-orientierten Betrachtung der Mathematik widersprechen, kommen in der Mathematikgeschichte vor. Unlängst hat A. Herreman mit Methoden der Semiotik eine Klasse von Texten der Mathematikgeschichte definiert, die er als “Inaugurationstexte” bezeichnet und deren zentrales Anliegen es ist, eine These zu propagieren, die sich ihrer Natur nach prinzipiell dem Beweis entzieht. Sein Prototyp solcher Texte ist die Church’sche These über berechenbare Funktionen. Andere von Herreman in einzelnen als Inaugurationstexte diagnostizierte Werke sind z.B. Descartes’ Géométrie und Fouriers Théorie de la chaleur. Euklids Elemente gehören jedoch nicht zu dieser Klasse.

Versuche, Ideen über tacit knowledge – der Begriff wurde von M. Polanyi u.a. zur Beschreibung wissenschaftlicher Praktiken eingeführt – auch für die Mathematikgeschichte fruchtbar zu machen, werden in der Regel die methodische Aufmerksamkeit auf mathematische Tätigkeiten vor oder jenseits von Theoremen richten.

Schließlich sind in den vergangenen Jahrzehnten verschiedenartige sozialhistorische Methoden sehr erfolgreich auf die Mathematikgeschichte angewendet worden, und Ansätze dieser Art liefern laufend neue aufschlussreiche Studien zur soziologischen Dimension des Begriffs des mathematischen Lehrsatzes. Beispiele solcher Studien werden im workshop vorgestellt und diskutiert werden.

Der Workshop wurde initiiert von Prof. Dr. Norbert Schappacher (Fellow 2011/12) und Prof. Dr. Felix Mühlhölzer (Philosophisches Seminar, Göttingen).