Tagungsbericht zur Konferenz "Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht" (12.-13.9.2014)

von Matthias Lippold

"Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht" lautete der Titel der Tagung, die der Arbeitskreis junger Völkerrechtswissenschaftlerinnen und Völkerrechtswissenschaftler (AjV) und die Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht (DGIR) am 12. und 13. September in Göttingen ausrichteten. Das Ergebnis war eine facettenreiche und kritische Betrachtung der Frage, ob und in welchen Varianten "Verhältnismäßigkeit" im Völkerrecht angekommen ist.



Dass viele spannende Diskussionen entstehen sollten, war bereits im Konferenzformat angelegt, das Nachwuchswissenschaftler und Professoren zusammenbrachte: auf jeden Vortrag folgte direkt zu diesem ein vorbereiteter Kommentar, der den Vortrag kritisch würdigte und nicht selten zusammen mit dem Vortrag die dann folgende Plenumsdiskussion inspirierte. Als Kommentatoren traten die Professoren Marc Bungenberg (Siegen), Robin Geiß (Glasgow/Potsdam), Heike Krieger (FU Berlin), Georg Nolte (HU Berlin), Andreas Paulus (Göttingen), Frank Schorkopf (Göttingen), Anja Seibert-Fohr (Göttingen), Peter-Tobias Stoll (Göttingen) und Erich Vranes (Wien) auf.

Nach einer Begrüßung durch Sebastian Ehricht im Namen des Organisationskomitees eröffnete Professor Dr. Anne Peters die Konferenz mit einem Vortrag über "Verhältnismäßigkeit als globales Verfassungsprinzip". Ihre Analyse von internationaler Recht- sprechung führte sie zu drei Prinzipien bzw. Varianten von Verhältnismäßigkeit. Die archaische oder auch horizontale Variante betreffe Verhältnismäßigkeitserwägungen zwischen zwei Staaten, beispielhaft kann hier das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigungshandlung gegenüber einer Gewaltanwendung genannt werden. In der zweiten, diagonalen Variante gehe es um die Abwägung von einem öffentlichen, staatlichen Interesse und Individual- oder Partikularinteressen miteinander. In der dritten, vertikalen Variante wiederum treffen globaler öffentlicher Interessen, wie zum Beispiel das Interesse am Freihandel, und nationale öffentliche (Regulierungs-)Interessen aufeinander.



So hilfreich diese Systematisierung als Einstieg in die Tagung gewesen ist, so schnell wurde in der Diskussion im Anschluss an den Vortrag und in den kommenden Referaten deutlich, dass sich viele - auch methodische - Fragen stellen, welche die Schwierigkeit illustrierten, Verhältnismäßigkeit und erst recht eine Verhältnis- mäßigkeitdogmatik im Völkerrecht und in seinen Teilbereichen zu identifizieren. Kann etwa eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, die von "reasonableness" spricht, als Argument für einen völkerrechtlichen Verhältnismäßig- keitsgrundsatz herhalten? Müsste man nicht erst "Verhältnismäßigkeit" begrifflich und konzeptionell klären, es ggf. von ihm nahestehenden aber doch von ihm verschiedenen Begriffen wie "reasonableness" abgrenzen? Oder läuft man so Gefahr, Begriffsjurisprudenz zu betreiben und sich im internationalen wissenschaftlichen Diskurs zu isolieren? Angesichts der deutschen Tradition der Verhältnismäßigkeits- prüfungen war es spannend zu sehen, dass bei vielen Teilnehmern dieser deutschsprachigen Konferenz auch ein kritischer Grundton zu hören war.

Nicht nur der erste Vortrag von Andreas Müller über die Abwägung von Menschenleben im Völkerrecht warf Fragen danach auf, wie abzuwägende Kriterien identifiziert und ihr jeweiliges Gewicht bestimmt werden können. Sind zum Beispiel Menschenrechte geeignet, die Auslegung des Prinzips der angemessenen und ausgeglichenen Nutzung im Wasserrecht beeinflussen, wie Ha Le Phan formulierte? Offene Fragen wie diese führten zur Diskussion über diejenigen, die Abwägungsentscheidungen treffen, und über ihre Legitimität, wie die Debatte nach Lars Schönwalds Vortrag über die Verhältnismäßigkeit in Investitionsschiedsverfahren zeigte. Vor dem Hintergrund, dass Verhältnismäßigkeitserwägungen auch als Rationalisierungen der Entscheidungsfindung begriffen werden können, ließe sich überlegen, sie rationaleren Wesen wie etwa Computeralgorithmen zu überlassen. Sebastian Wuschka lehnte dies in seinem Vortrag über autonom agierende Drohnen ab: es sei im humanitären Völkerrecht angelegt, dass die Abwägungsent- scheidung über Leben allein dem menschlichen Gewissen überlassen bleiben muss.



Untersuchungen neuer Anwendungsbereiche für Verhältnis- mäßigkeitsprüfungen boten die weiteren Panels. Frederik Becker setzte sich kritisch mit der "Divide and Tailor"- Formel in der Rechtsprechung des EGMR zur extraterritorialen Jurisdiktion auseinander. Michael Goldhammer diskutierte eine kompetenz- bezogene Verhältnismäßigkeit im Unionsorganisationsrecht. Nach diesen Ausflügen in die verschiedenen Teilbereichen des Völkerrechts weitete sich zum Ende hin der Fokus der Konferenz wiederum. Rike Sinder sorgte mit ihrem Vortrag über Jaques Derridas Vorstellungen über Gerechtigkeit, Gnade und Verhältnis- mäßigkeit dafür, dass die Konferenz bei all den drängenden rechtsdogmatischen Fragen nicht an einer übergeordneten Perspektive missen ließ. In den Vorträgen von Jochen Rauber und Sué Gonzaléz Hauck stellte sich schließlich nahezu eine System- frage: Ist die Verhältnismäßigkeit im gültigen Völkerrecht nun ein Instrument zur systematischen Harmonisierung konstitutionalis- tischer Prinzipien? Oder erschweren Fragmentierungstendenzen und die strukturelle Befangenheit verschiedener Teilbereiche bezüglich abzuwägender Güter, dass eine Verhältnismäßigkeits- dogmatik zur Rationalisierung der Entscheidungsfindungen und zur Rechtssicherheit führen kann?

Allen, die an Antworten und weiteren Fragen interessiert sind, sei die Lektüre des bald erscheinenden Tagungsband empfohlen (nähere Informationen zum Veröffentlichungsdatum werden folgen).