Alte Geschichte


Das Theologische Stift ist die viertälteste Einrichtung der Georg-August-Universität Göttingen. Es geht auf das im Jahr 1765 gegründete „collegium theologicum repetentium“ zurück, das sowohl zur Förderung der Studierenden als auch des wissenschaftlichen Nachwuchses eingerichtet wurde. Aus dem Repetenteninstitut gingen bedeutende Gestalten hervor: Johann Philipp Gabler (1753-1826), Professor der Theologie in Jena, der Orientalist Heinrich Ewald (1803-1875), der auf dem Gebiet der orientalischen Sprachwissenschaften außerordentliche Leistungen vollbrachte und dessen hebräische sowie arabische Grammatiken weite Verbreitung fanden, Gerhard Uhlhorn (1826-1901), einer der Gründungsväter der hannoverschen Landeskirche, Ferdinand Kattenbusch (1851-1935), Professor für systematische Theologie in Gießen, Göttingen und Halle. Unter den Repetenten war auch Julius Wellhausen (1844-1918), dessen Name Inbegriff der historischen Kritik am Alten Testament ist, wie sie Ende des 19. Jh. ihren Höhepunkt erreichte. Seine Arbeiten zum Alten Testament („Israelitische und jüdische Geschichte“, „Prolegomena zur Geschichte Israels“) gehören zu den klassischen Werken der Geschichtsschreibung des 19. Jh. und seine kritischen Arbeiten zur Evangelienforschung sind grundlegend für die moderne neutestamentliche Wissenschaft. Nach Niederlegung seiner theologischen Professur verfaßte er als Professor für Orientalistik in Halle Studien zur arabischen und frühislamischen Geschichte. Auch Bernhard Duhm (1847-1928), Professor für Altes Testament in Göttingen und Basel, dessen Forschungen zu einem neuen Verständnis der alttestamentlichen Prophetie führten, und der Neutestamentler Theodor Zahn (1838-1933) waren Repetenten im Haus am Stumpfebiel.
Im Jahr 1857 wurde das Haus von Prof. Himly am Stumpfebiel, das von 1809-1850 als akademisches Hospital diente, auf Anregung von Isaak August Dorner (1809-1884), eines bekannten Anhängers der sogenannten „Vermittlungstheologie“, die sich in der Nachfolge Schleiermachers zwischen der progressiv kritischen und der konservativeren konfessionalistischen Theologie bewegte, in ein Wohnhaus für Repetent*innen und Theologiestudierende umgewandelt, wo man gemeinsam lebte und studierte. Als Vorbild für diese Einrichtung diente das Tübinger Theologische Stift.
1867 wurde das alte Repetenteninstitut durch Ministerialerlaß aufgelöst und das „Theologische Stift“, so inzwischen die offizielle Bezeichnung, unter die wissenschaftliche Leitung eines Stiftsinspektors gestellt. Unter den Inspektoren, die in der Stumpfebiel gewirkt haben, finden sich unter anderen die Namen von William Wrede (1884-86), Carl Mirbt (1886-87), Alfred Rahlfs (1888-90), Rudolf Otto (1895-96), Emanuel Hirsch (1912-14), Erik Peterson (1916-1920), Kurt Dietrich Schmidt (1921-1925) und Hans von Campenhausen (1930-1933). William Wrede entwickelte unter dem Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule 1897 ein Programm der neutestamentlichen Theologie als Traditionsgeschichte. Vor allem sein Werk über das „Messiasgeheimnis in den Evangelien“ ist grundlegend für die „Formgeschichte“ sowie die neuere Leben-Jesu-Forschung. Carl Mirbt habilitierte sich 1888 als Schüler Hermann Reuters an der Göttinger Universität und wurde 1889 Professor für Kirchengeschichte in Marburg. Seine wichtigsten Forschungsarbeiten entstanden auf dem Gebiet der Papstgeschichte des hohen Mittelalters. Weit verbreitet war u. a. die Textsammlung „Quellen zur Geschichte des Papsttums“. Der Alttestamentler Alfred Rahlfs widmete seine ganze Arbeitskraft der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta und der Rekonstruktion der ältesten erreichbaren Gestalt ihres Textes. Den notwendigen Rahmen dafür ermöglichte ihm die Gesellschaft der Wissenschaften, die 1908 das Göttinger Septuagintaunternehmen einrichtete. Von A. Rahlfs stammt der Band zu den Psalmen sowie die bis heute maßgebliche zweibändige Handausgabe der Septuaginta. Rudolf Otto, der als systematischer Theologe in Göttingen, Breslau und Marburg lehrte, widmete sein Lebenswerk der Frage, wie Wesen und Wahrheit der Religion wissenschaftlich und begrifflich erfaßt werden kann. Durch sein Hauptwerk „Das Heilige“ wurde er weit über die Grenzen der Theologie hinaus bekannt. Der wegen seiner Unterstützung der deutschen Christ*innen umstrittene, universal gelehrte Theologe Emanuel Hirsch lehrte Kirchengeschichte und systematische Theologie in Bonn und Göttingen und verfaßte zahlreiche Werke zur Dogmengeschichte und Dogmatik sowie zur Exegese und zur praktischen Theologie. Besonders bekannt sind seine „Geschichte der neueren evangelischen Theologie“ und sein „Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik“. Erik Peterson lehrte als Neutestamentler und früher Kirchenhistoriker in Bonn, später trat er zum Katholizismus über und wurde Professor in Rom. Kurt Dietrich Schmidt wirkte als Kirchenhistoriker in Kiel und Hamburg, Hans von Campenhausen in Marburg und Heidelberg.
Im Jahr 1967 mußte das alte Stiftsgebäude nach einer statischen Untersuchung durch das Universitätskuratorium wegen Baufälligkeit geräumt werden. Ein Teil der Studierendenwohnungen wurde in zwei Häuser am Kreuzbergring ausgelagert. 1983 fand das Theologische Stift im alten Ernst-August-Hospital, einem 1850 errichteten klassizistischen Putzbau in der Geiststraße, eine neue Residenz. Der Umbau des Hauses, das in den Jahren zuvor als pharmakologisches Institut der Universität gedient hatte, wurde durch die lutherischen Kirchen der Konföderation der nordwestdeutschen Kirchen mit mehr als einer halben Million DM unterstützt. Außerdem gab die Theologische Fakultät den Landbesitz der Waisenhausstiftung in die Finanzierung ein, und mit Hilfe der Klosterkammer wurde eine Finanzierungslücke von 288000 DM geschlossen. Am 25.10.1982 wurde das „neue“ alte Theologische Stift, das damals von Walter Zimmerli, Professor für Altes Testament, als Ephorus geleitet wurde, mit einem Festakt eingeweiht.

In der Gegenwart leben und studieren etwa fünfunddreißig Theologiestudierende im Stift. Sie kommen aus unterschiedlichen christlichen Kirchen und verschiedenen Ländern (in den letzten Jahren z. B. Ungarn, Moldawien, Rumänien, Armenien, den skandinavischen Ländern, Italien, Schweiz, Togo, Taiwan, Japan, Korea, Brasilien, USA). Mit seinen ca. 30 Prozent Studierenden aus dem Ausland hat das Stift ein ausgeprägtes internationales und ökumenisches Profil.

Seit dem Frühjahr 2004 gibt es im Stift neben dem seit 1978 bestehenden Austausch mit Atlanta einen deutsch-brasilianischen Austausch. Studierende aus der Theologischen Hochschule in São Leopoldo (Brasilien) und dem Theologischen Stift verbringen ein Studienjahr an der jeweils anderen Hochschule und leben im Stift bzw. auf dem Campus in São Leopoldo. Die akademische Ausbildung erhält auf diese Weise auf beiden Seiten Impulse und wird gefördert. Vor allem aber stellt die Begegnung mit der jeweils anderen Gesellschaft und religiösen Kultur für beide Seiten eine erhebliche Herausforderung dar. Konfrontiert mit den Berichten über die Not im unmittelbaren Umfeld der Hochschule in São Leopoldo unterstützt das Stift seit Beginn des Austauschs eine Kindertagesstätte im brasilianischen Viamão im Großraum Porto Alegre.