Cheri-Geschichte: Arbeitsleben und die Erzeugung der urbanen Arbeitersiedlung in Madras, ca. 1870-1950


  • Forschungsgruppe: Moderne Indische Geschichte
  • Antragsteller: Prof. Dr. Ravi Ahuja
  • Projektbearbeiterin: Vidhya Raveendranathan, M.A.
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
  • Laufzeit: 1. Sept. 2014 bis 31. Aug. 2017




Projektzusammenfassung:

Das Projekt untersucht die Entstehung eines spezifischen Siedlungstypus im späten neunzehnten Jahrhundert, der durch die Praxis urbanen Arbeitslebens vielfältiger Beschäftigungsgruppen in Madras erzeugt wurde. "Urbane Arbeitsleben" werden hier als Artikulation miteinander verwobener sozialen Beziehungen verstanden, die Landrechte, Arbeit sowie soziopolitische Kulturen betrafen und beständig den sozialen Raum der Cheris erzeugten und reproduzierten.

Im Unterschied zu konventionellen arbeitshistorischen Studien, die auf einzelne Beschäftigtengruppen, meist Fabrikarbeiter, fokussieren, bezieht die Untersuchung urbaner Arbeitsleben eine Vielfalt alter und neuer Arbeitsformen mit ein und zeigt so historische Transformationen sozialräumlicher Verhältnisse auf. Arbeitssuchende Migranten bewohnten in Madras vornehmlich Cheris, d.h. informelle Siedlungen, die sich mit dem Wachstum der Stadt vervielfältigten.

'Cheri' kennzeichnet im Tamilischen ländliche Siedlungen, die Unberührbare in räumlicher Segregation von den übrigen Kasten des Dorfes beherbergen. Seiner kastenspezifischen Bedeutung entledigt, diente 'Cheri' auch als kolonial-amtssprachlicher Terminus, um städtische Arbeitersiedlungen zu bezeichnen, die als Ausdruck von Armut, Überbevölkerung und Parasitentum, als unintendierte Räume kolonialer "Modernität" galten. Cheris können allerdings weder auf Objekte des kolonialen "social engineering" noch auf Auswüchse einer vermeintlich zeitlosen, unveränderlichen ländlichen Welt reduziert werden. Vielmehr konstituieren sie ein dynamisches Kraftfeld, wo Netzwerke formeller und informeller städtischer Arbeit aufeinander trafen. Jede dieser Konfrontationen und Verbindungen erzeugte neue Arbeits- und Alltagsräume, transformierte die Beziehungen zwischen Stadt und ruralem Hinterland, redefinierte Gemeinschaftsidentitäten wie die der Kaste oder Religion, produzierte widerstreitende soziokulturelle und politische Imaginationen des städtischen Raumes und belegte die Cheris mit divergierende Bedeutungen.

Zudem waren die Geschichten dieser Siedlungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit älteren Siedlungen, Arbeitsformen und -kulturen verknüpft, die transformiert oder überformt wurden. So wurden komplexe Rhythmen des Alltagslebens hervorgebracht und eine vielschichtige Temporalität in die bauliche Struktur der Stadt eingeschrieben.

Auf dem Wege von fünf miteinander verbundenen Fallstudien verfolgt das Projekt folgende Hauptziele:
(a) die produktiven wie reproduktiven sozialen Praktiken alltäglichen Arbeitslebens zu rekonstruieren, die den Cheri als spezifische räumliche Form in der urbanen Landschaft von Madras hervorbrachten;
(b) nachzuvollziehen, wie diese Räume von verschiedenen Gruppen der Erwerbsbevölkerung wahrgenommen, erfahren, angefochten und angeeignet wurden;
(c) zu demonstrieren, wie diese sozialen und symbolischen Praktiken die Elitenpolitik beschäftigten und bisweilen der offiziellen Stadtplanung zuwiderliefen.