Lithiumorganische Verbindungen

Lithiumorganische Verbindungen sind seit ihrer Entdeckung ständig in ihrer Bedeutung gestiegen. Heutzutage sind sie aus der organischen und metallorganischen Synthese nicht mehr wegzu- denken. Sie werden in einer Vielzahl von Reaktionsprotokollen ein- gesetzt, die einen Bogen von Deprotonierungen sehr schwach azider Reagenzien bis zur Bindungsbildung beim Transfer or- ganischer Gruppen und anionischer Polymerisation im großen Industriemaßstab spannen. Die Aufdeckung der Struktur-Reaktivitätsbeziehung ist dabei immer noch der Heilige Gral, da es allgemein anerkannt ist, dass die lithiierte Spezies die Zusammen- setzung, Ausbeute und Stereochemie des Produkts determiniert[1].


Die Elektronendichtebestimmung kann Einblicke in die Bindungs- verhältnisse dieser reaktiven Moleküle bieten. Das Picolyllithium [(C6H6NLi·NC6H7)]2 (Abb. 2 oben) ist ein ausgezeichneter Kan- didat für so eine ausführliche Struktur-Reaktivitäts-Studie. Die Verbindung wird durch die Deproponierung eines Überschusses an 2-Picolin mit n-Butlyllithium in THF erhalten und besteht aus einem Dimer mit unreagiertem Edukt als N-Donormolekül und internem strukturellem Standard[2]. Ausschließlich durch die Betrachtung der Lewisformel in Abb. 2 rechts kann die Frage, ob es sich bei der Verbindung um ein Carbanion oder ein Lithiumamid handelt, nicht maßgeblich geklärt werden. Die dreidimensionale Darstellung des elektrostatischen Potenzials (ESP), dargestellt in Abb. 2 unten, liefert dagegen eine klare Aussage. Gegenüber der Li–N-Bindung finden wir eine ausgeprägte Region negativen ESPs oberhalb der Ringebene des Picolylanions und der Methylen- gruppe. Negative Regionen des ESPs sind bevorzugte Angriffs- bereiche für Elektrophile und tatsächlich findet der elektrophile Angriff im 2-Picolyllithium bevorzugt an der Methylengruppe statt. Folglich reagiert die Verbindung als Carbanion obwohl die Li–C-Bindung sehr lang ist.


Es ist bekannt, dass lithiumorganische Reagenzien in Kohlen- wasserstoffen oligomer vorliegen und deren Aggregationsgrad die Reaktivität dieser Verbindungen maßgeblich beeinflusst. Für die beiden in der Synthese am häufigsten eingesetzten Verbindungen, n-BuLi und t-BuLi, konnte bereits frühzeitig anhand kryoskopischer und spektroskopischer Messungen der Oligomerisierungsgrad ermittelt werden. So liegt n-BuLi als Hexamer und t-BuLi als Tetramer vor. Folglich ist deren Struktur in nicht-donierenden Lösungsmitteln identisch mit der Festkörperstruktur[3]. Durch Ether wie z. B. Diethylether oder THF, insbesondere aber durch tertiäre Amine wie z. B. TMEDA oder PMDETA, können diese Oligomere deaggregiert werden, was zur Reaktivitätssteigerung führt. In der Praxis werden meist Gemische aus Donorbasen zur Reaktions- führung eingesetzt, die reaktive Spezies ist hierbei meist unbekannt und die eingesetzten Basenverhältnisse werden meist empirisch ermittelt. Es wird stillschweigend angenommen, dass die stärkere Donorbase die gesamte Koordinationssphäre am Lithiumatom auffüllt.
In einer neuen Studie konnten wir nun den selektiven und konsekutiven Donorbasenaustausch an derselben Lithiumaryl- verbindung verfolgen und strukturanalytisch sichern (Abb. 3). Zweifellos ist es möglich, die Zusammensetzung eines gemischt- koordinierten Komplexes durch stöchiometrischen Zusatz einer Donorbase fein abzustimmen. Unerwarteter Weise jedoch steigt der Li–C-Abstand und damit die Reaktivität nicht mit der Menge an zugesetzter besserer Donorbase. Der optimale Zusatz an Donorbase zur Reaktivitätssteigerung kann viel besser angepasst werden als es in der Vergangenheit angenommen wurde. Im vorliegenden Beispiel sind es nur drei Äquivalente THF entgegen der erwarteten vier Äquivalente. In Zukunft sollte also die Bildung eines Hetero-Basenkomplexes bei der Reaktivitätseinstellung von lithiumorganischen Verbindungen erwogen werden[4].


Lithiumcyclopentadienylverbindungen sind eine der am häufigsten eingesetzten Edukte in der metallorganischen Chemie. Sie sind Verbindungen par excellence um eine große Vielzahl von Sandwich- und Halbsandwich-Komplexen der d-Block-Metalle in Transmetallierungs- oder Salzeleminierungsreaktionen darzu- stellen. Jüngst haben wir gezeigt, dass die Zugabe von Ammoniak zu einer CpLi-THF-Lösung Lithocen und sogar nacktes Cp generiert (Abb. 4). Die große Donorkraft und Deaggregations- fähigkeit des Ammoniaks sind die wahrscheinlichsten Gründe für die große Reaktionsgeschwindigkeit vieler lithiumorganischer Ver- bindungen in flüssigem Ammoniak. Der Einsatz von Ammoniak kann der Schlüsselschritt in Reaktionen mit hoher Potenzial- barriere durch sterische Hinderung sein. Im Unterschied zur Reaktivitätssteigerung durch Additive wie TMEDA oder PMDETA kann die Effizienz vieler Reaktionen durch die Abwesenheit des Kohlenwasserstoffgerüsts deutlich gesteigert werden[5].

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[1] T. Stey, D.Stalke „Lead structures in lithium organic chemistry“ in The Chemistry of Organolithium Compounds, eds. Z. Rappoport, I. Marek, John Wiley & Sons New York, 2004, 47-120.

[2] H. Ott, U. Pieper, D. Leusser, U. Flierler, J. Henn, D. Stalke Angew.Chem. 2009, 121, 3022, Angew.Chem. Int. Ed. 2009, 48, 2978 and highlighted by P. Macchi, Angew.Chem. 2009, 121, 5905, Angew. Chem. Int. Ed. 2009, 48, 5793.

[3] T. Kottke, D. Stalke Angew. Chem. 1993, 105, 619; Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 1993, 32, 580.

[4] D. Stern, N. Finkelmeier, K. Meindl, J. Henn, D. Stalke Angew. Chem. 2010, 122, 7021; Angew.Chem. Int. Ed. 2010, 49, 6869.

[5] R. Michel, R. Herbst-Irmer, D.Stalke Organometallics 2011, 30, 4379.