"Scientia poetica - Literatur und Naturwissenschaft" (WS 03/04)

Ob man sich nun der erstmals 1959 in dem Essay The two cultures vorgetragenen These Charles Percy Snows von der Koexistenz zweier Kulturen, einer literarisch-belletristischen und einer naturwissenschaftlich-szientifischen, anschließt, die in wechselseitiger Unkenntnis nebeneinander existierten - hier die Naturwissenschaftler und Techniker, die den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verstehen, dort die Vertreter der Artistenfakultät, denen dieser Gegenstand ein Buch mit sieben Siegeln ist -, ob man mit Arthur Koestler den Umstand beklagt, Geisteswissenschaftler als bornierte 'urban barbarians' hätten zwar Schwierigkeiten zuzugeben, daß sie ein literarisches oder künstlerisches Werk nicht verstünden, sie fänden aber nichts weiter dabei, wenn sie die Funktionsweise ihres Radios oder ihres Heizungssystems nicht erklären könnten, oder ob man umgekehrt dazu neigt, diese Beschreibung einer akademischen und kulturellen Kluft für eine übertriebene Dramatisierung oder auch für eine übermäßige Vereinfachung zu halten und die angebliche Dichotomie für einen 'Zwei-Kulturen-Wahn' (Hubert Markl) bzw. für den 'Snow von gestern' (Harald Weinrich) zu erklären - in jedem Falle wird man einräumen, daß Literatur und Naturwissenschaften zwar seit Jahrhunderten in vielfältigen Wechselwirkungen und Austauschbeziehungen miteinander gestanden haben, daß aber die Verständigung zwischen den Repräsentanten dieser verschiedenen Weisen der Welterkenntnis und der Welterzeugung bis heute vieles zu wünschen übrig läßt, und dies nicht zuletzt auch im akademischen Bereich und im Bildungswesen. Die gemeinsam vom Zentrum für komparatistische Studien der Georg-August-Universität und von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen veranstaltete Ringvorlesung möchte zu dieser Verständigung beitragen: Sie behandelt in einem weitgefächerten interdisziplinären Themenspektrum und in der exemplarischen Erörterung markanter historischer Stationen das für die Geschichte der westlichen Kultur seit mehr als zwei Jahrtausenden prägende wechselseitige Inspirations-, aber auch Spannungsverhältnis von Poesie und Naturerkenntnis. An Beispielen von weltliterarischer Bedeutung und von symptomatischem Gewicht kommen dabei Übergangs- und Wechselverhältnisse zwischen Dichtung einerseits, Disziplinen wie Mathematik, Physik, Biologie, Chemie, Hirnforschung oder Evolutionstheorie andererseits zur Sprache. Die Vortragenden der Reihe sind zu gleichen Teilen Geistes- und Naturwissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten der Georgia Augusta, aber auch von renommierten auswärtigen Universitäten und Forschungsinstituten. Der Vorlesungszyklus richtet sich an Hörer aller Fakultäten wie zugleich an ein breiteres Publikum, das am Gespräch über den (vermeintlichen) ‚Graben' der akademischen Kulturen hinweg interessiert ist.




  • 16. Oktober 2003
    Wovon man nicht reden kann, davon muß man erzählen
    Ernst Peter Fischer (Konstanz)


  • 23. Oktober 2003
    Welt aus Atomen - Das lateinische Lehrgedicht des Lukrez
    Siegmar Döpp (Göttingen)


  • 30. Oktober 2003
    Laiengelehrsamkeit - Über volkssprachliche Wissenschaft im Mittelalter
    Klaus Grubmüller (Göttingen)


  • 6. November 2003
    Kosmos und Kabbala in der Frühen Neuzeit
    Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin)


  • 13. November 2003
    'Es ist nur Eine Wahrheit: Der Träume Zahl ist unendlich' Georg Christoph Lichtenberg und das naturwissenschaftliche Denken in der Göttinger Aufklärung
    Ulrich Joost (Darmstadt)


  • 20. November 2003
    'Da sind die Chemiker viel galanter ...' Naturwissenschaftliches in Goethes Märchen und Wahlverwandtschaften
    Otto Krätz (Starnberg)


  • 27. November 2003
    Macht und Ohnmacht des Forschers - Mary Shelleys Frankenstein oder Der moderne Prometheus
    Dietrich von Engelhardt (Lübeck)


  • 4. Dezember 2003
    Kartographie des Denkens - Literatur und Gehirn um 1800
    Peter-André Alt (Würzburg)


  • 11. Dezember 2003
    Adelbert von Chamisso - Der Dichter und sein 'geliebtes Heu'
    Gerhard Wagenitz (Göttingen)


  • 18. Dezember 2003
    'Was war das Leben?' - Thomas Mann und die Evolution
    Manfred Eigen (Göttingen)


  • 8. Januar 2004
    'Die erste war Olimpia' - Hoffmanns Erzählungen von Puppen und Automaten
    Norbert Elsner (Göttingen)


  • 15. Januar 2004
    'Und sehe, daß wir nichts wissen können ...' - Poetische Wissenschaftsskepsis von Goethe bis Büchner
    Werner Frick (Göttingen)


  • 22. Januar 2004
    Vom 'Ursprung der Arten' zum 'Liebesleben in der Natur' - Metaphysischer Darwinismus in der Literatur um 1900
    Peter Sprengel (Berlin)


  • 29. Januar 2004
    Das Selbst im Schädelinnenraum - Gottfried Benns Gehirne und die Hirnforschung nach 1900
    Olaf Breidbach (Jena)


  • 5. Februar 2004
    'Für organische Chemie interessieren Sie sich also auch?' Wissenschaft als Thema in der Erzählkunst der klassischen Moderne
    Helmut Koopmann (Augsburg)


  • 12. Februar 2004
    Brechts Leben des Galilei und die Folgen - Physiker als Gegenstand literarischer Phantasie
    Klaus-Detlef Müller (Tübingen)




Eine Vorlesungsreihe des Zentrums für komparatistische Studien der Georg-August-Universität Göttingen
Zusammengestellt von Norbert Elsner und Werner Frick