Kunstwerk des Monats im März 2018


04. März 2018
Das Spielprinzip der Schöpfung. Die Kekropstöchter finden den jungen Erichthonius nach Peter Paul Rubens
Vorgestellt von: Kim Sulinski

KdM März 18 MittelDas Sehen, mit dem wir unsere Umwelt wahrnehmen, ist gleichsam ein geistiger Akt, der sich in der kognitiven Leistung des Erkennens vollendet. Peter Paul Rubens (1577-1640) verstand es auf besondere Weise, seine Bildthemen auf mehreren Sinnebenen zu entwickeln und so die Imagination und literarische Kenntnis des Betrachters zu fordern, das im Bild visuell nur Angedeutete zu entschlüsseln.
Der auf Grundlage eines gleichnamigen Gemäldes entstandene Stich enthält verschiedene Bedeutungsebenen, die in spielerischer Manier miteinander verknüpft werden. Rubens‘ Darstellung der Auffindung des schlangenfüßigen Erichthoniusknaben durch die Töchter des Kekrops liegen zwei zeitlich auseinanderliegende Erzählungen aus Ovids Metamorphosen zugrunde, die der Künstler in den größeren Kontext einer Allegorie der Natur bettet. Verweisen die dargestellten Figuren durch bestimmte Gesten und beigefügte Attribute auf diverse Persönlichkeiten aus der griechischen Mythologie, definieren vor allem das Schlangenkind und die als Diana Ephesia bekannte fünfbrüstige Brunnenfigur das Thema als Modell für Geburt und naturgegebene Diversität.

Die Vorstellung von Diana Ephesia als „Mutter Erde“, die als universelle Ernährerin für die generative und fruchtbarkeitsspendende Kraft der Natur steht, verleiht jenem komplexen Stich eine wichtige Bedeutung für die Ausstellung. Indem Rubens hier das Spannungsverhältnis von Kunst und Natur, das sich in den diversen Schöpfungsvarianten manifestiert, besonders akzentuiert, werden auch Brücken zu anderen in der Ausstellung gezeigten Grafiken geschlagen. So griff Rubens knapp zwei Jahrzehnte später wichtige Darstellungsmodi der Diana Ephesia in dem in der Ausstellung zu sehenden Buchtitel für das Impresenbuch Symbola Heroica wieder auf.

Der Vortrag soll eine visuelle Exegese ermöglichen, die die zeitübergreifende Struktur des Stiches durch den Diskurs über antike Mythen dekodiert. Die umfangreiche Metaphorik, die dieser Arbeit zugrunde liegt, definiert dieses Kunstwerk als ein grafisches Gedicht, das der Betrachter erst zu lesen lernen muss.