Das Voynich-Manuskript: Protoromanisch? Eine Stellungnahme.

In seinem kürzlich in der Zeitschrift Romance Studies erschienenen Artikel behauptet der Wissenschaftler Gerard Cheshire, bei der dem sog. Voynich-Manuskript (MS Beinecke 408) zugrunde liegenden Sprache handele es sich um ein "Protoromanisch", das vor der Herausbildung der verschiedenen romanischen Sprachen in einem großen Gebiet von der iberischen Halbinsel bis nach Osteuropa gesprochen worden sei.

Die Darstellungen von G. Cheshire sind aus mehreren Gründen problematisch und wissenschaftlich fragwürdig.


  • 1) Für die Existenz einer einheitlichen protoromanischen Sprache gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Mit dem Begriff „Protoromanisch“ wird in der Romanischen Sprachwissenschaft bzw. Sprachgeschichte ein Sprachstadium zwischen dem gesprochenen Latein (sog. Vulgärlatein) und den ältesten Denkmälern der romanischen Sprachen bezeichnet, das nur durch Rekonstruktion erschlossen wird. Die ältesten in romanischen Sprachen überlieferten Texte – die altfranzösische Eidesformel der Straßburger Eide aus dem Jahr 842 und die altitalienischen Eidesformeln der Placiti Cassinesi aus dem Jahr 960-963 – zeigen keinerlei Ähnlichkeit mit der Sprache des von Cheshire rekonstruierten Textes. Übereinstimmungen zwischen bestimmten Wörtern des Textes und Wörtern aus romanischen Sprachen können nichts als purer Zufall sein, was sich u.a. auch darin zeigt, dass man beim Vergleich der Wörter aus dem Text mit ganz anderen Sprachen (wie Cheshire selbst übrigens auch, z.B. im Fall „opát“ (S. 14)) ebenfalls zu Übereinstimmungen kommt.
    Zudem ist es nahezu ausgeschlossen, dass sich eine protoromanische Varietät bis in das 15. Jh. (Datierung des Manuskripts) erhalten haben könnte; auch das Argument der sprachlichen Isolation der Insel Ischia (wo das Manuskript Cheshire zufolge angeblich entstanden sein soll) rettet diese Hypothese nicht, denn nachgewiesenermaßen gab es bereits spätestens ab dem 9. Jh. (Gründung der ersten Siedlungen auf Ischia durch die Griechen) Schiffsverkehr zwischen Ischia und dem neapolitanischen Festland – ganz so isoliert wie Cheshire behauptet war die Insel also längst nicht.
    Darüber hinaus bezeichnet der von Cheshire mit einem angeblichen „Protoromanisch“ in Verbindung gebrachte Begriff „lingua franca“ in der romanischen Sprachwissenschaft eine italienisch-basierte Pidginsprache, die ab dem 16. Jh. im Mittelmeerraum nachweisbar ist und sprachlich ebensowenig mit der von Cheshire rekonstruierten Textsprache zu tun hat.

  • 2) Bereits im 19. Jahrhundert haben romanische Philologen die Herausbildung der romanischen Sprachen aus dem Lateinischen für die verschiedenen sprachlichen Ebenen (Phonetik, Morphologie, Syntax, Lexikon) so gut wie lückenlos rekonstruiert. Der Text von Cheshire vermittelt den Eindruck, die angebliche Sprache „Protoromanisch“ habe aus Fragmenten verschiedener Sprachen bestanden, was er im Falle der romanischen Sprachen durch den Vergleich mit Wortformen „belegt“, die in den modernen romanischen Sprachen vorkommen. Dieses Vorgehen ist anachronistisch und aus heutiger Sicht unwissenschaftlich. In der romanischen Philologie findet sich eine solche „Methode“ (d.h. der Versuch der Rekonstruktion eines genealogischen Zusammenhangs durch den (oberflächlichen!) Vergleich moderner romanischer Wortformen) zuletzt im 17. bzw. 18. Jh., d.h. in einer Zeit weit vor der Begründung der wissenschaftlichen romanischen Philologie. Das Außerachtlassen der seit dem 19. Jahrhundert weit fortgeschrittenen Forschung im Bereich der Romanischen Sprachgeschichte ist unwissenschaftlich und auch durch seine „Erkenntnisse“ in keiner Weise gerechtfertigt. (Laut eines Artikels aus dem Guardian hat Cheshire auf den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit in keiner Weise sachlich reagiert, sondern lediglich auf das Peer-Review-Verfahren der Zeitschrift verwiesen, in der er seinen Artikel veröffentlicht hat. Dass eine Publikation in einer Fachzeitschrift durchaus nicht immer (nur) durch wissenschaftliche Qualität zustande kommt, ist in akademischen Kreisen hinreichend bekannt.)

  • 3) Wissenschaftliche Forschung ist im Prinzip nichts anderes als ein ständiges Testen von Hypothesen. Wenn die Schrift, die Cheshire meint identifiziert zu haben, mit seiner Hypothese zu der vermeintlichen Sprache des Textes zusammenpasst, so bedingt das eine das andere und sagt über die wissenschaftliche Plausibilität nichts aus. Gesicherte Erkenntnisse entstehen in der Wissenschaft dann, wenn Hypothesen sauber belegt werden können, sich in den bisherigen Forschungskontext integrieren lassen und somit eine allgemeine Akzeptanz erreichen. Bei allen Beiträgen, bei denen dies (wie hier) nicht der Fall ist (vgl. auch die im Guardian-Artikel zitierten Aussagen linguistischer Fachkolleg*innen) handelt es sich um „möchtegern-sensationelle“ Konstruktionen, deren fachlicher Wert gegen Null tendiert.

  • 4) Gesetzt den Fall, die von Cheshire aufgestellten Laut-Buchstaben-Entsprechungen (d.h. das ihm zufolge für die Niederschrift des Textes verwendete Alphabet) lassen sich auf den gesamten Text anwenden (wofür der Beweis noch aussteht, denn Cheshire präsentiert in seinem Artikel nur ausgewählte Passagen), ist – unter Berücksichtigung der Entstehungszeit (Mitte 15. Jh.) und der Tatsache, dass sich offensichtlich Wörter aus vielen verschiedenen heute bekannten Sprachen (neben den romanischen Sprachen auch slavische Sprachen sowie Griechisch und Latein) in dem von Cheshire rekonstruierten Text finden – viel eher zu vermuten, dass es sich bei der Sprache des Textes um eine Kunstsprache (ähnlich also wie Esperanto oder die von dem Schriftsteller R. R. Tolkien erfundenen Sprachen) handelt, die ein Gelehrter der Renaissance, der über weit reichende Sprachkenntnisse verfügte, konstruiert hat. Über mögliche Gründe dafür lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren. Interessant ist, dass die Sprachräume, aus denen die von Cheshire gefundenen Wörter stammen, aneinander angrenzen und alle eine Verbindung zum Mittelmeerraum aufweisen. Es könnte sich bei dem Verfasser also um einen Gelehrten handeln, der in den Gebieten rund um das Mittelmeer unterwegs war und sich dabei seine umfassenden Sprachkenntnisse angeeignet hat.


  • Dr. phil. Sandra Hajek