Dr. Friederike von Criegern (Göttingen)


Eine Frage der Perspektive: Zu ungewöhnlichen Erzählinstanzen in der neuesten argentinischen Literatur über die Militärdiktatur


Respondent: Dr. Peer Trilcke (Göttingen)


Zeit: 9. Juli 2015, 18h c.t.
Ort: Raum VG VG 3.101 (Verfügungsgebäude, Platz der Göttinger Sieben 7, 37073 Göttingen).


Abstract

In der argentinischen Erzählliteratur wird die letzte Militärdiktatur (1976-83) zunächst in allegorisch zu lesenden Texten thematisiert. Die ersten Jahrzehnte nach deren Ende dominieren dann Romane, die in der Tradition der lateinamerikanischen testiomonio-Literatur stehen und die Opfer als Protagonisten und/oder Erzählinstanzen ins Zentrum stellen. Etwa eine Generation nach der Rückkehr zur Demokratie fällt nun eine Auffächerung der narrativen Formen auf: In einer Reihe von Romanen fungieren Kinder als Erzählinstanzen, so in Marcelo Figueras Kamchatka (2003), Alan Pauls Historia del llanto (2007) oder Laura Alcoba Manèges. Petite histoire argentine (2007). Aus der Täterperspektive sind dagegen die Romane Dos veces junio (2002) und Ciencias morales (2007) von Martín Kohan erzählt. Anhand ausgewählter Beispiele sollen Formen und Funktionen dieser besonderen narrativen Inszenierungen des Blickes auf das Zeitgeschehen analysiert werden. Dazu formuliere ich u.a. folgende Thesen:


  • Die Kinderperspektive ist als Perspektive eines unreliable narrator zu deuten und bedeutet einen Verzicht auf Wertungsautorität.
  • Der eingeschränkte Zugriff des kindlichen Zeitzeugen auf Faktenwissen verdeutlicht ein Problem der Erinnerungskultur. Die Leerstelle und die Bedeutung der (Re-)Konstruktion von memoria selbst wird thematisiert und die Funktion von Literatur in diesem Zusammenhang reflektiert.
  • Die Kinderperspektive bietet durch das kreative Füllen von Verständnislücken des erzählenden Protagonisten ein symbolisches und damit besonders literaturspezifisches Deutungsangebot der historischen Ereignisse, das nicht rein faktenbasiert ist.
  • Die Täter- und Mitläuferfiguren sind als Exemplifizierung der Banalität des Bösen im Sinne Arendts zu lesen.
  • Durch die Annäherung an Denkweisen der Täter wird die innere Logik diktatorialer Strukturen nachvollziehbar.