„Forschungsorientiertes Lehren und Lernen (FoLL)“-Projekt: „Was macht einen Erzähltext spannend?“

Fiktionale Narrationen werden für sehr unterschiedliche inhaltliche und strukturelle Merkmale geschätzt. Eines dieser Merkmale ist ihr Potenzial, bei Leserinnen und Lesern Spannung hervorzurufen. Die Forschung der letzten Jahre hat herausgearbeitet, dass dies keinesfalls nur für Exemplare bestimmter Genres (etwa den Thriller) oder nur für die ästhetisch wenig anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur gilt. Spannende Passagen sind vielmehr in Texten unterschiedlichster Genres und Gattungen zu finden. Bei genauerem Hinsehen ist dies eigentlich erwartbar. Denn spannende Stellen einer Narration zeichnen sich dadurch aus, dass ein allgemeiner Grundzug des Erzählens besonders effektiv eingesetzt wird. Jede Narration verkettet die Darstellung von Ereignissen zu einer Geschichte. Ist in einer Narration von einem Ereignis die Rede, so fragen wir uns: ‚Was passiert als nächstes?‘. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass das Gefühl von Spannung, das sich beim Lesen einstellen mag, eine Begleiterscheinung einer bestimmten Ausgestaltung der ereignisbezogenen Frage ‚Was passiert als nächstes?‘ ist. Spannend ist es demzufolge dann, wenn

(1) die Frage ‚Was passiert?‘ zwei einander ausschließende Antworten erwarten lässt,
von denen
(2) die eine Antwort erhofft, jedoch unwahrscheinlich, und die andere Antwort befürchtet, jedoch wahrscheinlich zu sein scheint.

Am Beispiel: In Arthur Conan Doyles Erzählung „The Story of the Brazilian Cat“ (1898) wird der Protagonist mit einer Großkatze zusammen in einem Verließ eingesperrt. In dem Raum befindet sich als einziger Einrichtungsgegenstand der Käfig des Raubtiers, auf den unser Protagonist sich retten kann. Da setzt das Raubtier zum Sprung an! Hier – so legt es die Forschung nahe – fragen wir uns: Wird der Protagonist verletzt? Dies erscheint als ebenso wahrscheinlich wie unerwünscht. Oder wird er es schaffen? Dies erscheint als ebenso unwahrscheinlich, wie wir es hoffen. Im Einzelnen besteht die Fragenstruktur einer Narration aus Fragen unterschiedlichen Typs: Neben sog. Mikro-Fragen, die unmittelbar ereignisbezogen sind und kürzere Textabschnitte betreffen, gibt es sog. Makro-Fragen, die erst nach einem längeren Textabschnitt durch ein Ereignis beantwortet werden. Die für das Entstehen des Spannungsgefühls wesentliche Frage (1) ‚Was passiert?‘ ist eine Makro-Frage, zu deren sukzessiver Beantwortung die spannende Textpassage beiträgt.
Die These, dass fiktionale Narrationen an spannenden Stellen bei Leserinnen und Lesern Fragen aufwerfen, die in der skizzierten Weise qualifiziert sind, wurde in der Forschung theoretisch konturiert und begründet. Empirisch überprüft wurde diese These bislang nicht. Hier setzt das FoLL-Projekt an: Wir wollen einen fiktionalen Erzähltext im Rahmen einer kollaborativen manuellen Annotation auf seine Fragenstruktur analysieren und damit einen Beitrag zur Ausgestaltung und Validierung der besagten Forschungsthese leisten. Eine besondere Herausforderung besteht dabei darin, Theorien, die von einer dem Text ‚zugrunde‘ liegenden Fragenstruktur sprechen, mit Theorien zu vermitteln, die von beim Lesen aktivierten Fragen ausgehen (denn es sind Fragen des letztgenannten Typs, die für das Spannungsempfinden wesentlich sein dürften).

Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer:
Maria Bentz
Johanna von der Fecht
Anina Ariane Karch
Prof. Dr. Tilmann Köppe
Antonia Luiking
Isabell Schwartze
Jelal Sedo