Ringvorlesung

im Wintersemester 2002/2003

 

 

DIE TRAGÖDIE

 

 

Eine Leitgattung der

europäischen Literatur

 

 

Donnerstag, 18 Uhr c.t.,

Bibliothekssaal in der Paulinerkirche

(am 24. 10. ausnahmsweise in der Aula der Universität am Wilhelmsplatz 1)

 

 

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17.10.2002 — Heinz-Günther Nesselrath

Aischylos, „Orestie“:

Ein erster Höhepunkt des europäischen Theaters

 

24.10.2002 — Klaus Nickau

Tragische Helden bei Sophokles

 

31.10.2002 — Hans Bernsdorff

Euripides: Anbruch der Moderne?

 

07.11.2002 — Günther Patzig

Antike Tragödienphilosophie: Platon und Aristoteles

 

14.11.2002 — Ulrich Schindel

Senecas Tragödien: Dissoziation des Dramenkörpers?

 

21.11.2002 — Heinz-Joachim Müllenbrock

Shakespeare und die elisabethanische Tragödie

 

28.11.2002 — Manfred Engelbert

Kann die comedia tragisch sein?

Überlegungen zum spanischen Welttheater des siglo de oro

 

05.12.2002 — Dirk Niefanger

Barocke Vielfalt:
Trauerspielformen auf deutschen Bühnen

 

12.12.2002 — Hans Günter Funke

Die französische tragédie classique:

Racines „Phèdre“

 

19.12.2002 — Irmela von der Lühe

Das bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert

 

09.01.2003 — Werner Frick

Tragödienexperimente um 1800:

Die Weimarer Klassik und ihre Antipoden

 

16.01.2003 — Reinhard Lauer

Die russische Tragödie

 

23.01.2003 — Horst Turk

Tragödienphilosophien der Neuzeit:

Kant, Hegel, Nietzsche, Benjamin

 

30.01.2003 — Martin Staehelin

Tragödie als Musiktheater

 

06.02.2003 — Fritz Paul

Henrik Ibsens untragische Tragödien

 

13.02.2003 — Fred Lönker

Der Verfall des Tragischen

 

 

 

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17. Oktober 2002

 

Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath

Aischylos, „Orestie“: Ein erster Höhepunkt

des europäischen Theaters

 

 

 

Zwar wurde der Ruhm des Aischylos lange von dem seiner jüngeren Rivalen Sophokles und Euripides überstrahlt (deren Stücke wurden seit dem 4. Jahrhun­dert v. Chr. den seinigen bis weit in die Neuzeit vorgezogen), doch waren die Athener des 5. Jahrhunderts anderer Meinung: Sie ehrten Aischylos nicht nur nach seinem Tod (456/5 v. Chr.) damit, daß sie seinen Stücken unbegrenzte Wie­deraufführungsmöglichkeit zugestanden, sondern sie erkannten noch fünfzig Jahre später Aristophanes den ersten Preis im Komödienwettbewerb zu, als er in seinen Fröschen Aischylos zur Krone der attischen Tragödienkunst erklärte. In der Tat erhielt die attische Tragödie vor allem durch Aischylos in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ihre charakteristische Form: Seine ‚Erfindung’ der zweiten Sprechrolle machte die für sie typische Abfolge von Sprechakten und Chorauftritten möglich und schuf damit etwas, was sowohl in Richtung Singspiel wie reines Sprechdrama weiterentwickelt werden konnte.

Wenige Jahre vor Aischylos’ Tod aufgeführt (458), bildet die Orestie den Höhe­punkt seines Schaffens. Als einzige aus der Antike erhaltene Stücktrilogie ver­mittelt sie uns auch einen einzigartigen Eindruck von einem typischen Theater­erlebnis im klassischen Athen, wo man einen ganzen Tag damit zubrachte, zuerst drei tragische Dramen und danach noch ein Satyrspiel zu verfolgen. Mehr als seine beiden großen Rivalen hat Aischylos für solche Stückfolgen auch übergrei­fende Inhalte gesucht; so stellt die Orestie die sich von Generation zu Generation fortpflanzende Kette von Verbrechen im Fürstenhaus der Atriden dar, bis es durch die Begründung einer neuen Rechtsform gelingt, den Kreislauf der Vergel­tung dauerhaft zu durchbrechen. Die drei Stücke zeigen packende, stark mitein­ander kontrastierende Charaktere und spannende Entscheidungssituationen; Aischylos’ visuelle Effekte waren schon in der Antike berühmt. Schon in der Orestie zeigt so das europäische Theater, was es zu leisten vermag.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Textausgabe: M. L. West, Aeschyli tragoediae cum incerti poetae Pro­metheo, Stuttgart 1990. – Übersetzung: B. Seidensticker, Aischylos, Orestie in der Über­setzung von Peter Stein, mit einem Nachwort hrsg., München 1997. Kommentare: E. Fraen­kel, Aeschylus. Agamemnon, Oxford 1950 (3 Bde). – J. D. Denniston & D. L. Page, Aeschylus. Agamemnon, Oxford 1957. – A. F. Garvie, Aeschylus. Choephori, Oxford 1986. – A. H. Sommerstein, Aeschylus. Eumenides, Cambridge 1989. Sekundärliteratur: M. Hose, Aischy­los’ Orestie – eine alte Geschichte neu erzählt, in: Ders., Meisterwerke der antiken Literatur, München 2000, 34-53. – L. Käppel, Die Konstruktion der Handlung der Orestie des Aischylos. Die Makrostruktur des „Plot“ als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs, Mün­chen 1998. – Ders., Der Fluch im Haus des Atreus: Von Aischylos zu Eugene O’Neill, in: H. Hofmann (Hrsg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 221-241. A. Bierl, Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeptionen und ihre szenische Realisierung, Stuttgart 1997.

 

 

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24. Oktober 2002

 

Prof. Dr. Klaus Nickau

Tragische Helden bei Sophokles

 

 

 

Sophokles (497-406/05 v. Chr.) ist der im engeren Sinne klassische der drei gro­ßen attischen Tragiker. Er habe, so etwa soll er gesagt haben, erst den Prunk des Aischylos und die Härten seiner eigenen Kunst überwinden müssen, ehe er zu seinem die Charaktere genau ausdrückenden Stile fand. Euripides, so zitiert ihn Aristoteles in der Poetik, stelle die Menschen dar, wie sie sind, er aber, wie sie sein sollen. Sophokles wisse, so urteilt schließlich ein antiker Biograph, den entschei­denden Augenblick und die Handlungen so genau ins Verhältnis zu bringen, daß aus einem kleinen Halbvers, ja aus einem einzelnen Wort eine ganze Person mit ihrem Charakter hervorgehe.

Was macht die großen, so klar gezeichneten Gestalten des Sophokles in einem be­sonderen Sinne zu tragischen Helden? Was für ein Menschenbild liegt ihnen zugrunde? Was macht ihre heldische Bewährung, was ihr tragisches Leiden aus? An zwei Tragödien, dem relativ frühen Aias und dem erst in hohem Alter vom Dichter aufgeführten Philoktet sollen diese Fragen erörtert werden.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Sophoclis fabulae, rec. H. Lloyd‑Jones et N. G. Wilson, Oxford 1990 (krit. Ausgabe). – Sophokles, Dramen, Griechisch und deutsch, hrsg. u. übers. von W. Willige, überarb. von K. Bayer, München und Zürich 21985 [Tusculum; 1990 als Taschenbuch dtv 2252] (Leseausgabe). – Sophokles, Tragödien, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von W. Scha­dewaldt, Zürich 1968 u.ö. [Artemis] (nur Übers.). – Einzelübersetzungen: Sophokles, Aias, R. Rauthe (Reclam UB 677); Philoktet, W. Kuchenmüller (Reclam UB 709; beide Dramen auch bei Suhrkamp it 1562 und 2535). – Zur Einführung: B. Zimmermann, Die griechische Tragödie, München und Zürich 21992. – J. Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993. – Speziell: K. Reinhardt, Sophokles, Frankfurt/M. 31949. – B. M. W. Knox, The Heroic Temper, Berkeley 1964. – Chr. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, Mün­chen 1988.

 

 

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31. Oktober 2002

 

PD. Dr. Hans Bernsdorff

Euripides: Anbruch der Moderne?

 

 

 

Unter dem Namen des Euripides, des jüngsten der drei großen Tragödiendichter des klassischen Athen (geb. zwischen 485 und 480, gestorben 406 v. Chr.), sind 18 Tragödien und ein Satyrspiel überliefert, mehr Stücke als von Aischylos und Sophokles zusammen. Das zeugt ebenso von seiner im 4. Jhd. v. Chr. einsetzen­den Popularität wie die zahlreichen durch Zitate bei späteren Autoren oder auf Papyrus erhaltenen Bruchstücke, deren für die nahe Zukunft angekündigte Neu­ausgabe zu den wichtigsten editorischen Unternehmungen der Gegenwarts-Grä­zistik gehört. Die Beliebtheit des Euripides zeigt sich auch in zahlreichen späteren Adaptationen, vom hellenistischen und römischen bis zum neuzeitlichen Drama, in dem die deutsche Klassik mit Goethes Iphigenie auf Tauris von 1796 einen Hö­hepunkt darstellt.

Schon von Zeitgenossen wie dem Komödiendichter Aristophanes, vor allem aber in der Forschung nach dem Ersten Weltkrieg wurden bestimmte Züge des euripi­deischen Werkes (z.B. das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, das Interesse für die Abgründe der Seele, die Destruktion des Heroischen) als besonders modern empfunden. Die Vorlesung fragt nach der Berechtigung solcher Ein­schätzungen, indem sie zum Vergleich auf Konzeptionen der Modernität zurück­greift, wie sie die Komparatistik herausgearbeitet hat.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Textkritische Ausgabe von J. Diggle, Oxford 1981-1994. Griechisch-deutsche Gesamtausgabe (mit ausgewählten Fragmenten) mit der Übersetzung von E. Buschor, hrsg. v. G. A. Seeck, München 1972-1981. – Zur Einführung: B. Zimmermann, Die griechische Tragödie, 2. Auflage München 1992, 94-138.

 

 

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7. November 2002

 

Prof. Dr. Günther Patzig

Antike Tragödienphilosophie:

Platon und Aristoteles

 

 

 

Daß in Athen im fünften Jahrhundert (ca. 484-406 v. Chr.) drei tragische Dichter vom Rang eines Aischylos, Sophokles oder Euripides auftraten, ist ebenso unerklärlich wie die nur um einige Jahrzehnte versetzte Trias der Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles (ca. 460-322 v. Chr.). Angesichts dieser Konzentration von Genies mußten die Nachwelt die Texte besonders fesseln, in denen die großen Denker auf die von den Tragikern geschaffenen Werke mit theoretischen Reflexionen antworteten. Der Vortrag geht diesen Begegnungen nach. Platon und Aristoteles in gleicher Weise in die Be­trachtung einzubeziehen, würde den Rahmen eines Vortrags sprengen. Der Akzent wird vor allem auf Aristoteles liegen. Das ist schmerzlich, aber sachlich vertretbar: Platon, in den beiden Textabschnitten (Res publica II/III 376c-403c; X 595a-608b), in denen er seinen Sokrates über Kunst, speziell Dichtung, sprechen läßt, zielt in der ersten Passage vor allem auf die für die Erziehung der „Wächter“ bedeutsame pädagogisch-sittenbil­dende Wirkung ab; in der späteren Partie des Staats geht es um die ontologische Schwä­che aller Kunst – „drittrangig, was die Wahrheit betrifft“.

Aristoteles geht es in seiner kurzen Schrift De arte poetica – jenem nach Scaligers be­rühmten Wort „aureum libellum“ – mehr um die begriffliche Erfassung der eigentlichen Natur (‚Physis’) der Tragödie, die er als die höchste Form der Dichtung ansieht, und, vor allem, um eine Erklärung der Wirkung der Tragödie auf empfängliche Zuschauer (oder Hörer). Während bei Platon der zentrale Begriff seiner Reflexion auf die Dichtung der der ‚Mi­mesis’ ist, steht im Zentrum der aristotelischen Analyse der Begriff der ‚Katharsis’, der ‚Reinigung’ bzw. der ‚Befreiung’ von Affekten, speziell von den ‚tragischen Affekten’ des Mitleids und der Furcht, oder, wie seit W. Schadewaldt manche lieber wollen, des ‚Jammerns’ und des ‚Schauderns’.

Seit der Renaissance hat man die aristotelische, in Poetik 6, 1449 b 24-28 formulierte These, die Tragödie bewirke mit ihren kunstgerechten Mitteln eine „Katharsis der Lei­denschaften“ und dadurch eine spezifisch tragische Lust, in verschiedener Weise zu er­klären versucht. Von großer Wirkung waren in Deutschland die Stellungnahmen Les­sings (Hamburgische Dramaturgie 74.-83. Stück, 1767/68) und Goethes (Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, 1827), die man wohl als, wenn auch höchst produktive, Missver­ständnisse ansehen muß. Man sollte, wie es allerdings auch in ähnlichen Kontroversen oft nicht geschieht, die beiden Fragen auseinanderhalten: (a) „Was genau hat Aristoteles gemeint?“ (Haupt­thema der bisherigen Diskussion); und (b) „Hat Aristoteles mit seiner Auffassung Recht?“ Die zweite Frage läßt sich wiederum in zwei Teilfragen gliedern: (b)1, ob Aristoteles’ These auf die griechische Tragödie des 5. Jahrhunderts zutrifft, und (b)2, ob er eine für tragische Dichtung als solche allgemeingültige Kennzeichnung vorgelegt hat.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Platon, Res publica, gr. in Platonis Opera, ed. J. Burnet, OCT, Bd. IV, Oxford 1902 (zahreiche Nachdrucke). Dt. Übersetzungen: Otto Apelt, Philosophische Biblio­thek Bd. 80, Leipzig 1923, Neudruck Hamburg 1988; K. Vretska, Stuttgart 1958. – Aristoteles, De arte poetica, ed. R. Kassel, Oxford 1965. Org. u. dt., mit Anm. und Nachwort hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, ²1994. – Zur Einführung: Artikel „Platon“ (J. Timmermann), S. 631-640; „Aristoteles“ (Chr. Rapp), S. 23-35, in: J. Nida-Rümelin u. M. Betzler: Ästhetik und Kunstphilosophie in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998. – Artikel: „Mimesis“ (W. Erhart) S. II, 595-600; „Katharsis“ (C. Zeller) S. II, 249-252, in: H. Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der dt. Literaturwissenschaft, Bd. II, Berlin, New York 2000. – A. Schubert: Platon, Der Staat. Ein einführender Kommentar, UTB 1866, 1995, S. 150-164. – M. Luserke (Hg.): Die Aristotelische Katharsis, Hildesheim 1994.

 

 

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14. November 2002

 

Prof. Dr. Ulrich Schindel

Senecas Tragödien:

Dissoziation des Dramenkörpers?

 

 

 

Senecas Tragödien sind die einzigen, die uns aus der reichen römischen Tragö­dienproduktion erhalten sind. Und sie stammen aus einer Zeit, als die lebendige römische Theaterpraxis sechs oder mehr Generationen zurücklag. Sind sie nun verspätete Solitäre oder doch Zeugnisse einer ganz neuen Poetik, die mit den Ka­tegorien aristotelischer Dramen-Theorie nur noch wenig Berührung haben? Sind sie gar Lehrstücke der stoischen Affektlehre und nur zum Lesen oder Vorlesen gedacht? Die Fachleute haben sich seit den letzten sechzig Jahren sehr kontrovers zu diesen Fragen geäußert. Eine Lösung bietet sich vielleicht, wenn man Senecas Tragödien vor dem Hintergrund der zeitgleichen Deklamationen betrachtet, Musterreden, wie sie in den zeitgenössischen Rhetorenschulen geübt wurden und wie sie Seneca natürlich unter dem Einfluß seines Deklamationen-besessenen Vaters kannte und in jungen Jahren geübt hatte. Mag ein eindeutiges Ergebnis auch vielleicht nicht erreichbar sein, so lohnt es sich doch immer, die Werke eines Mannes in die Hand zu nehmen, von dem gesagt wurde, daß er „der größte Ver­treter einer neuen, auf Schlagkraft, Pointierung und Knappheit, vielmehr einem ganzen Hagel von Knappheiten bedachten Beredsamkeit ist, zweifellos der ein­zige, der es an Geist und Bildung mit Cicero aufnehmen kann“ (W.H. Friedrich).

 

 

 

Literaturempfehlungen: Seneca, Oedipus, lat./dt. übers. u. hrsg. v. K. Heldmann (Reclam) – Se­neca, Medea, hrsg. u. übers. v. B.W. Häuptli (Reclam) – Zur Einführung: Senecas Tragödien, hrsg. v. E. Lefèvre, Wege der Forschung 310, Darmstadt 1972.

 

 

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21. November 2002

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock

Shakespeare und die

elisabethanische Tragödie

 

 

 

Als Shakespeare sich dem Tragödienschaffen zuwandte, konnte er auf keine in seinem kulturellen Umfeld akzeptierte Theorie dieser Gattung zurückgreifen. Im elisabethanischen England gab es als kleinsten gemeinsamen Nenner lediglich die generisch wenig präzise Vorstellung vom Fall eines Großen. In dem Vortrag soll dargelegt werden, wie Shakespeare, an dieses elementare Konzept anknüpfend, es zu einer komplexen Auseinandersetzung mit den bis in ihre Tiefe ausgeloteten tragischen Befindlichkeiten menschlicher Existenz ausweitete. Dabei sollen zwei Fallstudien im Mittelpunkt stehen. Am Beispiel von Julius Caesar wird aufge­zeigt, wie dieses als politische Charaktertragödie zu interpretierende Römerdrama bereits vollen tragischen Rang beanspruchen kann. Unter den sogenannten gro­ßen Tragödien gehört die Aufmerksamkeit vor allem Macbeth; der Vortragende konzentriert sich auf das zentrale Problem der in diesem Stück besonders heiklen Sympathielenkung: gelingt es Shakespeare, seinem Protagonisten die für einen tragischen Helden notwendige Sympathie des Publikums zu sichern? Alle näher zu kommentierenden Textpassagen werden sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung ausgeben werden.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Gesamtausgabe: The Complete Works, ed. Stanley Wells and Gary Tay­lor, Oxford 1998. – Kritische Einzelausgaben u.a. in The Arden Shakespeare. – Übersetzungen (außer den klassischen Übertragungen von Schlegel-Tieck): Julius Cäsar, zweisprachige Aus­gabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther, München 1998. – Macbeth, Englisch und Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Barbara Rojahn-Deyk, Stuttgart 1996. – Sekundärliteratur: Ulrich Suerbaum, Shakespeares Dramen Düsseldorf 1980. – Dieter Mehl, Die Tragödien Shakespeares. Eine Einführung Berlin 1983. – Ina Schabert (Hg.), Shakespeare‑Handbuch. Die Zeit – Der MenschDas Werk – Die Nachwelt, Stuttgart 2000.

 

 

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28. November 2002

 

Prof. Dr. Manfred Engelbert

Kann die comedia tragisch sein?

Überlegungen zum spanischen Welttheater

des Siglo de Oro

 

 

 

Feste Verankerung im Katholizismus und konsequente Stilmischung sind zwei wesentliche Merkmale des spanischen Theaters des 16. und 17. Jahrhunderts, die Lope de Vegas ‚neue Kunst’ ebenso bestimmen wie Calderóns weltliche und geistliche Stücke. Sowohl ästhetisch wie theologisch-ethisch scheint die Tragödie in der ‚comedia’ – so die allgemeine Bezeichnung des Hauptprodukts für die Bühnen im Spanien der Habsburger – also nicht ihren Ort zu haben. Auch ist be­hauptet worden, das zeitgenössische Publikum sei eben nicht ‚tragisch aufgelegt’ gewesen. Dennoch ist immer wieder von den Tragödien der großen Spanier ge­sprochen worden.

 

Der Vortrag wird versuchen, eine Definition von Tragödie und Tragik zu geben, die ontologische wie praktische Gesichtspunkte im historischen Kontext berück­sichtigt. Tragik wird dabei als Konzept erkennbar werden, mit dem sich unbewäl­tigte, nicht als zu bewältigend erscheinende gesellschaftliche Phänomene ästhe­tisch fassen lassen.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Manfred Tietz, „Das Theater im Siglo de Oro“, in: Hans-Jörg Neu­schäfer (Hg.), Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 1997, 152-184. – Manfred Engelbert, „Calderón de la Barca“, in: Klaus Pörtl (Hg.), Das Spanische Theater – Von den Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, 240-279.

 

 

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5. Dezember 2002

 

PD Dr. Dirk Niefanger

Barocke Vielfalt:

Trauerspielformen auf deutschen Bühnen

 

 

 

Wesentlich stärker als das Theater der Nachbarländer war die deutsche Bühne des 17. Jahrhunderts durch ihre Internationalität geprägt, insbesondere auch das ba­rocke Trauerspiel. Das liegt vor allem an der kulturellen und politischen Vielfalt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, an der dezentralen Ausrich­tung seiner Kultur und der spezifischen Konkurrenz zwischen den einzelnen Höfen und Städten. Das fehlende Nationaltheater und die lange Orientierung am lateinischen Humanismus haben ein eigenständiges und unabhängiges Theater lange verhindert, waren aber nicht von Nachteil für seine Entwicklung; denn das barocke Drama konnte sich, wie keine der Nachbarkulturen, auf die besten Exempel dieser Gattung beziehen. In seinen unterschiedlichen Formen nimmt es produktiv und spielerisch Aspekte des antiken, mittelalterlichen, englischen, ita­lienischen, spanischen, französischen und niederländischen Dramas auf. Obwohl also ein deutschsprachiges Trauerspiel auf europäischem Niveau erst nach Shakespeare, Calderon, Tasso oder Corneille, nämlich erst im 17. Jahrhundert entsteht muß es als ein – zumindest von der heutigen Bühne verkannter – Meilen­stein des europäischen Theaters angesehen werden.

Im Vortrag werden voraussichtlich (mit einem Seitenblick auf Shakespeare und das Drama der französischen Klassik) Trauerspielformen der Wanderbühne, der Jesuiten und des protestantischen Schultheaters (Gryphius, Lohenstein, Weise) behandelt. Viele Texte von Bidermann, Gryphius, Hallmann, Lohenstein, Opitz und Weise sind bei Reclam erschienen.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Alexander, Robert J.: Das deutsche Barockdrama, Stuttgart 1984. – Steinhagen, Harald (Hg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1570-1740, in: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 3, Reinbek 1985. – Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Stuttgart, Weimar 1993 ff. – Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas. Bd. 3: Das Theater der Barockzeit, Salzburg 21967. – Meier, Albert (Hg.): Die Literatur des 17. Jahr­hunderts, München 1999. – Niefanger, Dirk: Barock. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 2000. – Niefanger, Dirk: Tragödie, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Teil II: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, Stuttgart, Weimar. [i.Dr.] – Schings, Hans-Jürgen: Consolatio tragoediae. Zur Theorie des ba­rocken Trauerspiels, in: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, Frankfurt 31980, 1-44.

 

 

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12. Dezember 2002

 

Prof. Dr. Hans-Günter Funke

Die französische tragédie classique:

Racines „Phèdre“

 

 

 

Im nationalliterarischen Selbstverständnis Frankreichs gilt die von Corneille und Racine repräsentierte Gattung der regeltreuen Tragödie als die ästhetisch vollen­detste Schöpfung des 17. Jahrhunderts. Phèdre, Racines 1677 uraufgeführte Ge­staltung des antiken Phaedra-Hippolytos-Stoffes, gilt als sein Meisterwerk, ja als das beste Werk der französischen Literatur schlechthin. Während Corneilles stoische Helden in dem Konflikt zwischen Liebe und Pflicht sich mit eherner Willensstärke für die Pflicht entscheiden, werden die sensibleren Helden Racines Opfer ihrer fatalen Liebesleidenschaft. Unter Berufung auf das Vorbild der An­tike – die Tragödien von Euripides und Seneca – behandelt Racine die kühne Thematik der ehebrecherischen und inzestuösen Liebe einer Königin, in der Ab­sicht, die tragische Bühne als eine „Schule der Tugend“ zu funktionalisieren. Der Vortrag soll vor allem die folgenden Aspekte herausarbeiten: die Veränderung der antiken Vorlagen durch die klassizistische Regelpoetik (doctrine classique), die strukturstiftende Parallelität des Kampfes von Phèdre und Hippolyte um ihre moralische Integrität, die Merkmale der griechischen Tragödie in „Phèdre“ (Prä­senz der Götter, Götterfluch), endlich die komplexe Schuldfrage: die schuldlos-schuldige Phèdre als Opfer des Götterfluchs, die Deutung der Tragödie im Sinne des pessimistischen Menschenbildes der christlich-jansenistischen Gnadenlehre.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Jean Racine, Phèdre, in: Œuvres complètes, Ed. R. Picard, Bd. I, S. 735-803, Paris 1969 (Bibliothèque de la Pléiade, 5). – Phädra. Trauerspiel von Racine, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. XV, Übersetzungen aus dem Französischen, Hrsg. W. Hirdt, Weimar 1996, S. 275-387. – Jean Racine, Phèdre/Phädra. Tragédie en cinq actes/Tragödie in fünf Aufzügen frz./dt., Hrsg. u. Übers.: Wolf Steinsieck, Ditzingen, Reclam 1995. – Antoine Adam, Histoire de la littérature française au XVIIe siècle, Bd. IV, Paris, 1968, S. 255-377. – Pierre Clarac, L’Age classique, Bd. II, Paris 1969, S. 237-257 (Littérature française, 7). – René Bray, Formation de la doctrine classique, Paris 1963.

 

 

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19. Dezember 2002

 

Prof. Dr. Irmela von der Lühe
Das bürgerliche Trauerspiel
im 18. Jahrhundert

 

 

 

Aus England kam die dramatische Form, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Entwicklung der Tragödie in Deutschland maßgeblich prägen sollte: das bür­gerliche Trauerspiel. George Lillos The London Merchant (1731) wurde zum Prototyp einer Gattung, die von Lessings Miß Sara Sampson (1755) über Emilia Galotti (1772), Heinrich Leopold Wagners Kindermörderin (1776) bis zu Schillers Kabale und Liebe (1784) reicht und im 19. Jahrhundert u.a. mit Hebbels Maria Magdalena (1844) oder Gerhart Hauptmanns Rose Bernd (1903) fortgeführt wird. Thematisch und kompositorisch bricht das bürgerliche Trauerspiel mit den Gat­tungskonventionen der Tragödie: nicht Haupt- und Staatsaktionen, nicht Ehr- und Normenkonflikte von (adeligen) Standespersonen, sondern der scharfe Ge­gensatz zwischen absolutistischer Willkür und bürgerlichem Tugendethos bestimmen das dramatische Geschehen. In der moralisch-empfindsamen Integri­tät familialer Bindungen erkennt man das Modell einer ursprünglichen und natür­lichen Sozialordnung, die indes nicht nur durch den Adel, sondern durch die Ri­gidität der bürgerlich-familialen Normen selbst bedroht ist. Die neue Gattung liefert somit nicht nur die Kritik an der höfisch-aristokratischen Lebensform, sondern auch an deren Gegenentwurf, an der bürgerlichen Familie.

An ausgewählten Beispielen (insbesondere Lessing und Schiller) wird der Vortrag die Entwicklung der Gattung und den Wandel ihres zentralen Paradigmas nach­zeichnen.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Alle Texte liegen als Reclam-Ausgaben vor. Zur einführenden Lektüre außerdem empfohlen: Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart 51994.

 

 

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9. Januar 2003

 

Prof. Dr. Werner Frick

Tragödienexperimente um 1800:

Die Weimarer Klassik und ihre Antipoden

 

 

 

Zur Bestimmung des Gemeinsamen der europäischen Klassiken und Klassizismen hat die Forschung (W. Voßkamp, R. Koselleck) eine „Wiederholungsstruktur“ benannt, die sich insbesondere in zwei Merkmalen geltend mache: in einer Tendenz zum genus sublime, zur erhöht-erhabenen Stillage, einerseits und im Rückgriff auf antike Modelle, in der „Grundfigur des Mythos als Thema des Dramas“, andererseits. Das gilt auch für die deutsche Literatur „um 1800“, und es gilt in ausgezeichneter Weise für die antikisierenden Dramenexperimente, in denen führende Autoren der Goethezeit (Wieland, Klinger, Ch. von Stein, Goethe, Schiller, A.W. Schlegel, Hölderlin, Kleist) aus der produktiven und ‚agonalen’ Auseinandersetzung mit den attischen Tragikern, mit Aischylos, Sophokles und Euripides, ein neues, zeitgemäßes Verständnis des Tragischen und der Tragödie zu gewinnen suchen. Der Vortrag wird in einer tour d’horizon die epochale Gemengelage solcher dramatischen Antikenexperimente vorstellen und ‚sortieren’, und er wird an den drei überragenden Paradigmen dieser littérature au second degré (G. Genette) – an Goethes Iphigenie auf Tauris (1779/87), Schillers Braut von Messina (1804) und Kleists Penthesilea (1808) – die dramaturgische, ästhetische und geschichtsphilosophische Spannweite wie den enormen Spannungsreichtum dieser (gleichsam in einer querelle des anciens et des anciens miteinander rivalisierenden) Tragödienexperimente zu erläutern suchen.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Die drei zentralen Bezugstexte sind in jeder Werkausgabe greifbar, am preiswertesten bei Reclam: Iphigenie auf Tauris (RUB 83), Die Braut von Messina (RUB 60), Penthesilea (RUB 1305). – Zur Einführung in den Gegenstandsbereich können dienen: Rolf-Peter Carl: Sophokles und Shakespeare? Zur deutschen Tragödie um 1800. In: Deut­sche Literatur zur Zeit der Klassik, hrsg. von K.O. Conrady, Stuttgart 1977, S. 296-318. – Werner Frick: „Ein echter Vorfechter für die Nachwelt“. Kleists agonale Modernität – im Spiegel der Antike. In: Kleist-Jahrbuch 1995, S. 44-96. – Ders.: Schiller und die Antike. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, Stuttgart: Kröner, 1998, S. 91-116. – Kurt von Fritz: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen, Berlin 1962. – Martin Mueller: Children of Oedipus and other essays on the imitation of Greek tragedy 1550-1800, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, 1980. – Uwe Petersen: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit, Hei­del­berg 1974. – Siegfried Streller: Antikerezeption und Schicksalsproblematik. Der Versuch einer Erneue­rung der antiken Tragödie. In: Par­alle­len und Kon­tra­ste. Studien zu literarischen Wechselbe­ziehungen in Europa zwischen 1750 und 1850, hrsg. von H.-D. Dahnke, Berlin/­Weimar 1983, S. 221-243. – Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990, Stuttgart/Weimar: Metzler, 1993.

 

 

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16. Januar 2003

 

Prof. Dr. Reinhard Lauer

Die russische Tragödie

 

 

 

Infolge des in den orthodoxen Ländern lange geltenden Theaterverbotes fand die dramatische Kunst erst sehr spät Eingang nach Rußland. Nach mancherlei An­läufen wurde 1756 das Russische Nationaltheater in St. Petersburg gegründet, in dessen Repertoire fortan die Tragödie nach klassizistischem Zuschnitt (Racine, Gottsched) die beherrschende Rolle innehatte. Die russischen Musterstücke lie­ferte schon seit 1747 A.P. Sumarokov; sie wurden recht schematisch bis ins 19. Jahrhundert hinein nachgeahmt und fortgeführt. A.S. Puškin und einige Dichter aus seinem Umkreis versuchten in den 1820er Jahren, die Tragödie im Sinne von Shakespeares historical plays zu erneuern. Boris Godunov wurde hier der exempla­rische Text, der im 19. Jahrhundert nicht wenige Nachfolger fand. Ein dritter Versuch, die Gattung diesmal im Rückgriff auf die griechischen Tragiker zu bele­ben, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommen (Innokentij Annenskij, Vjačeslav Ivanov). Trotz dieser drei bedeutsamen Ansätze hat die Tragödie in Rußland keinen bestimmenden Platz unter den dramatischen Gattungen einge­nommen, sondern bildete eher nur eine Unterströmung hinter dem russischen Hauptstrom, der durch die dramatischen Werke A.S. Griboedovs, N.V. Gogols, A.N. Ostrovskijs, A.P. Čechovs und M. Gor’kijs gegeben ist.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000. – Russkie dramaturgi XVIII-XIX vv. Monografičeskie očerki v trech tomach. Hrsg. von G.P. Berdnikov u.a. Leningrad-Moskau 1959-1961. – Hans-Bernd Harder: Studien zur Geschichte der russischen klassizistischen Tragödie 1747-1769. Wiesbaden 1962. – E.P. Gorodeckij: Tragedija A.S. Puškina „Boris Godunov“. Leningrad 1969. – Rolf-Dieter Kluge: Die Komposition des „Boris Godunov“. In: Serta Slavica: in memoriam Aloisii Schmaus. Hrsg. von Wolfgang Gesemann. München 1971, S. 342-354. – Armin Hetzer: Vjačeslav Ivanovs Tragödie Tantal. Eine literarhistorische Interpretation. Phil. Diss. Bonn 1972. – Vsevolod Setschkareff: Studies in the Life and Work of Innokentij Annenskij. The Hague 1963.

 

 

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23. Januar 2003

 

Prof. Dr. Horst Turk

Tragödienphilosophien der Neuzeit

Kant, Hegel, Nietzsche und Benjamin

 

 

 

Nicht nur die Theorie des Tragischen, auch die Theorie der Tragödie scheint seit den Anfängen bei Platon und Aristoteles eine Domäne der philosophischen Ästhetik zu sein. Es gibt eine Soziologie des Dramas, auch eine Semiotik des Komischen und der Komödie, jedoch – trotz gewisser Ansätze bei Lukács, Nietz­sche und Benjamin – keine Soziologie oder Semiotik des Tragischen und der Tra­gödie: eine Zugangsweise, die neben dem vertrauten Blick der Dramenpoetik allerdings auch den „fremden Blick“ der Theaterästhetik vorausgesetzt hätte. Wir werden mithin bis zu einem gewissen Grad genötigt sein, theoretisches Neuland zu betreten, wenn wir versuchen wollen, Konstruktionsweisen von Tragik ein­schließlich ihrer philosophischen Interpretation anhand von Tragödien und das heißt: tragödientheoretisch, herauszuarbeiten. Beschreitbar ist zum einen der Weg der historischen Einbettung von Kant, Hegel, Nietzsche und Benjamin in den Kontext der Aufklärung, des Idealismus, des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts: traditionellerweise im Sinn des mangeln­den Verständnisses für ausweglose Konflikte, des geschichtsphilosophischen Ausgleichs derselben, der Polarisierung unter diesem Vorzeichen, der Auflösung eines Paradigmas. Beschreitbar ist zum anderen der Weg einer weniger interpre­tationsgeschichtlichen als zeichengeschichtlichen Analyse auf philologischer – sowohl dramenpoetischer wie auch theaterästhetischer – Grundlage. Tragödien, ob lebensweltlich oder literarisch, basieren nicht auf einer metaphysischen We­senheit, sondern die Annahme einer solchen Wesenheit basiert auf Tragödien, womit wir uns, anders als erwartet, doch wieder in der Nähe der Aristotelischen Poetik befinden.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Zur vorbereitenden Lektüre empfohlen: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1974, § 23-30, zur Analytik des Erhabenen. – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Die Arten der dramatischen Poesie und deren Hauptmo­mente“, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt/M. 1973, S. 519-574. – Friedrich Nietz­sche: „Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus“, in: Nietzsche Werke, hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Abt. III, Bd. 1, Berlin, New York 1972, S. 1-152. – Walter Benjamin: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.1, S. 203-430. – Literarisch kann die Vorlesung an bereits behandelte Autoren anknüpfen (berührt werden vermutlich: Sophokles, Antigone; Euripides, Iphigenie in Aulis; Shakespeare, Julius Caesar; Goethe, Tasso; Schiller, Fiesko; Büchner, Danton; Beckett, Endspiel). Zur Einführung und als Hintergrundfolie: Peter Szondi: Versuch über das Tragische, Frankfurt/M. 21964.

 

 

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30. Januar 2003

 

Prof. Dr. Martin Staehelin

Tragödie als Musiktheater

 

 

 

Manches, was das Musiktheater an ernsten Schöpfungen hervorgebracht hat, steht, beinahe seit seinen Anfängen und dann über Jahrhunderte hin, im Banne der großen Tragödie des Klassischen Altertums. Dies gilt schon für die frühe Oper um 1600, ebenso für die typisierte spätbarocke Opera seria des 18. Jahrhun­derts, ja selbst noch für das Musikdrama Wagners, und dies, obwohl die Verto­nungen, die innerhalb solcher Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie ent­stehen, wegen des zusätzlichen Mediums der Musik immer wieder Modifikationen, Umgestaltungen, ja Mißverständnisse der tragischen Form und Textgrundlage erfahren müssen. Da eine Gesamtgeschichte des ernsten Musik­theaters in einer Einzelvorlesung nicht geboten werden soll und kann, wird es vor allem darum gehen, jene Auseinandersetzung an wenigen, aber wichtigen musik­theatralischen Konzeptionen und zugehörigen Werken anschaulich zu machen: die Namen, mit denen sich dieses verbindet, sind diejenigen von Claudio Monte­verdi, Christoph Willibald Gluck und Richard Wagner.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Jede gute Darstellung der Musikgeschichte; aber auch die entspre­chenden Artikel in Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), 2. neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher; z.B.: ‚Dramma per musica’ (Opera seria), Sachteil, Bd. 2, Sp. 1452-1500; ‚Mu­sikdrama’, Sachteil, Bd. 6, Sp. 1182-1195; ‚Musiktheater’, Sachteil, Bd. 6, Sp. 1670-1714; ‚Oper’, Sachteil, Bd. 7, Sp. 635-641; ‚Tragédie lyrique – Tragédie en musique’, Sachteil, Bd. 9, Sp. 703-726.

 

 

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6. Februar 2003

 

Prof. Dr. Fritz Paul

Henrik Ibsens untragische Tragödien

 

 

 

Ist es tragisch, wenn eine Mutter sich überlegt, ob sie ihrem geisteskranken er­wachsenen Sohn das ,erlösende’ Gift geben oder ihn ein Leben lang pflegen soll? So in Ibsens Gespenster. Aktuell ist es auf jeden Fall. Stichworte: Euthanasie, Pflegefall. – Ist es tragisch, wenn eine schwangere Hysterikerin sich in einer gro­tesk-theatralischen Szene in den Kopf schießt, nachdem sich kurz zuvor ihr Ver­ehrer in den Unterleib geschossen hat? So in Ibsens Hedda Gabler. Aktuell ist es auf jeden Fall. Nicht nur in der Welt der Soap-Operas. – Ist es tragisch, wenn ein Bankrotteur, der viele Menschen ins Unglück gestürzt hat und dem jedes Un­rechtsbewußtsein abgeht, einen Herzinfarkt in eisiger Winternacht erleidet? So in Ibsens John Gabriel Borkman. Aktuell ist es auf jeden Fall. Betrügerische Kon­kurse sind ebenso an der Tagesordnung wie Herzinfarkte.

In der Vorlesung soll an drei Beispielen aufgezeigt werden, wie Ibsen die klassi­sche Tragödie verabschiedet, indem er eine neue „Tragik des Alltags“ (Maurice Maeterlinck) entwickelt und dadurch zum Ahnvater des modernen Dramas wird. So ist beispielsweise Frau Alvings Sohn Osvald in Gespenster auf vielfältige Weise ,determiniert’. Ihm ist daher, wie so vielen anderen Ibsenschen Figuren, wie auch seiner Mutter, jede Selbstbestimmung verwehrt, so daß er als Nicht-Handelnder auch nicht mehr schuldig werden kann im Sinne der klassischen Tragödie, son­dern als Objekt seiner Familienbindung untragisch zugrunde geht. – In Hedda Gabler gibt es zwar am Ende zwei Tote, aber Hedda Gablers ganzer Lebensent­wurf ist als Inszenierung ins Sinnlos-Groteske entglitten, und der Text zeigt bei genauerer Lektüre eher eine Affinität zum grotesken oder absurden Drama des 20. Jahrhunderts als zur klassischen Tragödie. – In John Gabriel Borkman ist vor langer Zeit ein gründerzeitlicher Potentat gestürzt, und die Fallhöhe ist groß. Borkman selbst empfindet das ausschließlich als die Tragödie seines Lebens, da er in egozentrischer Verblendung den Blick nur auf sich selbst richten und für an­dere kein Mitgefühl empfinden kann. Er stürzt nicht mehr wie die großen Shake­speareschen Helden in der Aura wahrhaftiger Tragik, sondern beigemischt sind in seinem Charakterporträt Züge des Tragikomischen und Grotesken, Stilzüge und Bedeutungsmuster, die das Motiv gerade für die Moderne handhabbar machen und die erst in Inszenierungen unserer Tage (etwa von Luc Bondy) herausgear­beitet wurden. Ein Seitenblick auf Strindberg erhärtet diese These.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Die drei behandelten Gesellschaftsdramen Ibsens sind bis heute im Re­pertoire des Welttheaters gegenwärtig und auch als Reclam-Bändchen leicht zugänglich. Der Schwerpunkt der Ausführungen wird auf Gespenster liegen: Henrik Ibsen: Gespenster. Ein Fa­miliendrama in drei Akten. Aus dem Norwegischen übersetzt von Heidi Krüger. Nachwort von Aldo Keel. Stuttgart: 1999 (RUB 1828). – Henrik Ibsen: Hedda Gabler. Schauspiel in vier Akten. Aus dem Norwegischen übersetzt von Christel Hildebrandt. Nachwort von Helmut Bachmaier. Stuttgart: 2001 (RUB 2773). – Henrik Ibsen: John Gabriel Borkman. Schauspiel. Aus dem Norwegischen von Hans Egon Gerlach. Nachwort von Gerhard Reuter. Stuttgart: 1993 (RUB 8673).

 

 

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13. Februar 2003

 

Prof. Dr. Fred Lönker

Der Verfall des Tragischen

 

 

 

Während Friedrich Nietzsche in seinen Anfängen noch von einer Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Wagnerschen Musik träumte, mehren sich spä­testens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Stimmen, die eine Wiederer­weckung dieser Gattung für unmöglich hielten. Allenfalls über den Weg einer Neufassung der antiken Vorbilder sei dies möglich, einer Neufassung allerdings, die in die Stücke den Geist der Moderne legen müsse. Derselbe Hofmannsthal, der eine solche ,Neuauflage‘ in der Elektra versucht, schreibt denn auch 1921, die bürgerliche Welt als die Welt des bloß sozial Bedingten sei tragödienuntauglich. Botho Strauß schließlich konstatiert, unsere Unglücke seien „auf schmerzliche, beinahe brutale Weise untragisch“. Ein Bedürfnis nach Selbsterhöhung sei es, das die Zeitgenossen nach Tragödien verlangen lasse, der Wunsch, ein „großartiges Leidwesen“ zu sein. Gleichwohl – das zeigte schon das Beispiel Hofmannsthals – wurden solche Stücke geschrieben, sei es in der Tradition jener Antikenrezeption wie etwa Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, oder sei es – in gänzlich ande­rer Weise – Karl Kraus’ monströses Werk Die letzten Tage der Menschheit, in dem die Gattungsbezeichnung Tragödie allerdings weniger die Form als vielmehr das Thema meint. Vollends zur ironischen, aber darin bedeutungstragenden Folie wird sie in Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe, die zugleich Parodie und Travestie von Schillers romantischer Tragödie ist, oder etwa in Dürrenmatts Stück Der Besuch der alten Dame, bei dem man sich nur noch mit dem Begriff der Tragikömödie behelfen kann. Die Vorlesung will an ausgewählten Beispielen den Verfall, aber auch das Nachwirken einer ehemals ,klassischen‘ Gattung demonstrieren.

 

 

 

Literaturempfehlungen: Zur Vorbereitung empfiehlt sich die Lektüre von Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, oder: Griechentum und Pessimismus, Ditzingen (Reclam) o.J. – Hugo von Hofmannsthal, Elektra, Ditzingen (Reclam) 2001. – Bertolt Brecht, Die heilige Jo­hanna der Schlachthöfe, Bange 2002. – Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame, Zü­rich (Diogenes) 1998. – Botho Strauß, Kalldewey. Farce, München (dtv) o.J.