Aus der Schweiz nach Deutschland - durch Terror, Betrug und Ablehnung.

Die biografische Rekonstruktion einer Fluchtgeschichte, von denen es mehr gibt, als man vermutet
von Hauke Mangels, 19.08.2019


Hauke Stadtlabor Magazin Artikel
Husseins Fluchtroute.

Aus der Schweiz in den Libanon…
Im April 1991 wird Hussan (Name ist anonymisiert) in Luzern in der Schweiz geboren. Auf seiner Geburtsurkunde steht „nationalité libanaise“, da seine Mutter und sein Vater in der Schweiz lebende Libanesen sind. Hussans lange Reise beginnt im Alter von 2 Jahren, als seine Mutter beschließt mit ihm in den Libanon zurückzureisen. 1993 kommt Hussan in Baalbak an, einer Grenzstadt zu Syrien im Osten des Libanon. Dort wächst er, aufgrund der anhaltenden Konflikte mit Anrainerstaat Israel mit Krieg und Gewalt auf. Mit dem Beginn des Kollapses des syrischen Staates 2011/2012 kommt es in den Grenzregionen immer wieder zu Überfällen und Anschlägen, die auf islamistische Gruppierungen (Al Qaida/ Al-Nusra-Front, ISIS). Nach eigenen Angaben verliert er bis 2016 die Hälfte seiner Familie. Auf dem Korruptionsindex der Nichtregierungsorganisation Transparency International liegt Libanon auf Platz 143 von 180 beobachteten Ländern (2018). Das Land ist geprägt von Korruption und Perspektivlosigkeit.

Hussan besucht die Schule, später sogar die Universität, an der er 2 Jahre lang Mathematik studiert, bis sie wegen veruntreuten Geldern keine Finanzierung mehr erhält und geschlossen wird. Hussan will der Gewalt entfliehen und zurück in die Schweiz, wo sein Vater eine komfortable Immobilie besitzt und berufliche Erfolge aufzuweisen hat.

…vom Libanon in die Türkei…
Nach mehreren Monaten körperlich harter und gefährlicher Arbeit auf Baustellen, hat Hussan genug Geld zusammen, um nach Europa zurückzureisen. Im Oktober 2016 fliegt er von Beirut nach Izmir (Türkei). Von dort geht es mit einem Taxi nach Dikili, einer Hafenstadt im Norden der westlichen Türkei. Wie so viele Flüchtende ist auch Hussan auf Schlepper und Schleuser angewiesen. Diese verlangen in Dikili 1200 Dollar für einen Platz in einem Boot zur griechischen Insel Lesbos. Auf einem Schlauchboot mit knapp 30 anderen Flüchtenden wird Hussan in letzter Sekunde gezwungen das Boot zu steuern. Die Schlepper bleiben sicher an Land. Mitten auf dem Meer versagt der Motor. Die Erinnerungen sind noch immer präsent und traumatisierend für Hussan. Nach mehreren Stunden Arbeit an der Startvorrichtung, springt der Motor an und bringt das Schlauchboot nach Mytilini, Griechenland.

… über Griechenland und die Balkanroute…
Die griechischen Behörden registrieren Hussan zuerst informell als „Flüchtling“ und statten ihn mit Papieren für die Weiterreise aus. Mit dem Zug ging es dann über verschiedene „Flüchtlingsunterkünfte“ (eine genaue Definition der Unterkünfte würde ihrer Realität nicht gerecht werden) durch Serbien, Kroatien, Slowenien, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Deutschland bis in die Schweiz. Hussan erinnert sich noch genau an eine brisante Situation in einem „Übergangslager“ in Kroatien: Auf die Frage wie lange man denn noch auf die Weiterreise warten müsse, reagierten die kroatischen Polizisten mit Häme und Gewalt. „Komm wieder, wenn du zwei Monate hier bist.“ antwortete einer der Polizisten auf Englisch. Auf eine weitere Nachfrage bekam Hussan einen Tritt auf die Brust, der ihn mehrere Meter zurückstieß. Die regelmäßigen Gewaltüberschreitungen in Kroatien sind der EU laut Amnesty International bekannt, werden aber geduldet und durch EU-Gelder mitfinanziert.

… nach Deutschland…
Im November 2016 kommt Hussan auf der Durchreise am Kölner Hauptbahnhof an. Auch hier muss er sich in einem „Flüchtlingscamp“ aufhalten, das vom Grenzschutz verwaltet wird. Die Polizei vor Ort registriert Hussan als Flüchtling und nimmt, unter Zusicherung der Unwichtigkeit dieser „Formalie“, seine Fingerabdrücke ab. Da viele Bekannte bei Abgabe ihres richtigen Passes direkt wieder abgeschoben wurden, gibt Hussan lediglich eine Kopie seines libanesischen Passes ab. In Deutschland gilt der Libanon zwar nicht als sicheres Herkunftsland, doch „Perspektivlosigkeit“, welche die zuständigen Verwaltungsbehörden aus sicherer Entfernung attestieren, führt meist zu einer Ablehnung. In einer Fluchtsituation sollte es eigentlich vermieden werden, über Menschen pauschal zu richten und ihnen Handlungsmotive zuzuschreiben, die die Komplexität der Situation verkennen und banalisieren.

…endlich zurück in der Schweiz…
Nach dem Aufenthalt im „Flüchtlingscamp“ bei Köln und einer langen Zeit der Unsicherheit, darf Hussan endlich in die Schweiz ausreisen. Dort lebt er bei seinem Vater, besucht eine Sprachschule und macht seinen Führerschein. Nach 6 Monaten kommt ein Bescheid der Schweizer Behörden: Aufgrund der Fingerabdrücke, die in Deutschland genommen wurden, darf er nicht in der Schweiz bleiben, sondern muss nach Deutschland, wo er eine Duldung als „Flüchtling“ erhalten soll. Auf ein Versteckspiel mit der Polizei wollte Hussan um jeden Preis verzichten und reiste freiwillig zurück nach Deutschland.

… und zurückgewiesen nach Deutschland, Göttingen…
Seit Mai 2017 ist Hussan in Göttingen und wartet darauf, sein Leben beginnen zu können. Er will nicht in einem fremden Land leben, aber sein Land sei durch den Krieg und die Gewalt verroht. Sein Ziel war es immer, in der Schweiz bei seinem Vater ein neues Leben zu beginnen. Doch angesichts der Bestimmungen des europäischen Asylsystems und vor allem der sogenannten Dublin-Verordnung, die besagt, dass das Land für die Durchführung eines Asylantrags zuständig ist, in welchem der Geflüchtete als erstes registriert wurde, ist er nun gezwungen, irgendwie in Deutschland Fuß zu fassen oder zu Krieg und Korruption in den Libanon zurückzukehren.

… in den Fängen der deutschen Bürokratie…
Seit Hussan in Göttingen ist, versucht er zu arbeiten. Schwarzarbeit nimmt in Deutschland zwar ab, ist jedoch immer noch weit verbreitet. Neben formalen Arbeitsangeboten wird Hussan seit 2017 auch immer wieder informelle Arbeit angeboten. Wegen seiner in der Schweiz erworbenen Fahrerlaubnis und seiner fehlenden Arbeitserlaubnis ist er ein attraktives Ziel für Drogendealer, um deren Ware zu transportieren. Doch solche Angebote schlägt Hussan kategorisch aus: Sie sind haram.

Die ersten sechs Monate in Göttingen arbeitet Hussan in einem Gastronomiebetrieb. Der Chef ist ein Bekannter eines entfernten Verwandten. Er gibt ihm Arbeit und bietet sogar an, als eine Art „Bank“ für Hussans Geld zu dienen. Den Hauptteil seines verdienten Geldes würde er behalten und es für ihn horten. Nach sechs Monaten, als Hussan versucht eine bessere Arbeit zu finden, will er sein erarbeitetes Geld abholen. Als er mit dem Anliegen zu seinem Chef kommt, leugnet dieser jemals Geld von Hussan genommen zu haben. Die Situation ist aussichtslos. Ihm bleibt nichts anderes übrig als auf die ca. 2000 Euro zu verzichten und woanders zu arbeiten. Er versucht permanent im Rathaus seine Arbeitserlaubnis zu bekommen, doch ergebnislos. Auf seiner „Duldung“ steht in der Nebenbestimmung: „(…) Selbstständige Tätigkeit nicht gestattet. Beschäftigung nur mit Genehmigung der Ausländerbehörde und Zustimmung der Agentur für Arbeit gestattet, sowie zustimmungsfreie Tätigkeiten (…).“

… staatliche Arbeitsverbote und der Wille, zu leben...
Er erklärt mir, dass er Angst hat, nichts beitragen zu können, nicht zu leben. „Ich bin jung und will arbeiten, warum darf ich nicht arbeiten?“ Unter den juristischen Gesichtspunkten erfüllt er alle Auflagen bis auf eine Vorschrift: Es fehlt der libanesische Pass. Die Geburtsurkunde aus der Schweiz oder der Führerschein reichen nicht. Hussan hat seinen Pass nicht abgegeben. „Glaube mir, es ist so vielen von meinen Freunden passiert. Sobald ich meinen libanesischen Pass abgebe, werde ich abgeschoben.“ Wegen der Formalität eines Lichtbildausweises darf Hussan also seit fast drei Jahren nicht arbeiten. Die Bürokratie entscheidet. Logisch für Hussan ist dies absolut nicht. In Deutschland gibt es jährlich zehntausende unbesetzte Lehrstellen, besonders in der Logistik und Gastronomie (Hotelbranche). Diese Branchen sehen gerade Geflüchtete als hochmotivierte Mitarbeiter und in ihnen die Chance, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Hussan hatte einen sicheren Ausbildungsplatz bei einem Logistikunternehmen in Göttingen, bekam jedoch keine Arbeitserlaubnis.

... unerwünscht und doch „de-facto-citizen“...
Hussan ist in diesem Sinne ein „de facto-citizen“, also ein Mensch der de-facto Teil einer Bevölkerung eines Landes ist, auch wenn seine Ausreisepflicht nur ausgesetzt ist. Während Hussan vom Staat, weiterhin als Unerwünschter behandelt wird, ist er schon längst in Göttingen angekommen und Teil der Gesellschaft geworden.

Hussan erzählt mir oft, dass er Deutschland liebt. Die Menschen seien so nett, es herrscht Frieden. Wenn es um die Ausländerbehörde geht, wird er wütend und genervt: „Das ist das einzige, was ich hier nicht mag“, erzählt er. „Ich mag wirklich fast alles, außer das. Weißt du, unser Prophet Mohammed sagt, dass der Islam sozial sein muss. In den islamischen Ländern haben wir aber keinen Sozialstaat. Die Menschen mit Geld geben keinen Cent. Der Koran sagt, wenn man viel Geld hat, muss man den Ärmeren helfen. Wenn ich hier ein Kind hätte, würde ich Geld vom Rathaus bekommen. Obwohl ihr [Deutschen] nicht im Islam seid, sehe ich den Islam hier als einen starken institutionellen Islam mit dem Namen ‚Sozialsystem‘. In Deutschland macht der Islam, was der Islam eigentlich muss. Hier ist der richtige Islam, obwohl ihr [Deutschen] eigentlich nichts vom Islam wisst. Du weißt nicht, was es mir bedeutet, dass Deutschland mir hilft. Meine Mutter hat mir gesagt, dass hier das richtige Leben ist und das merke ich jeden Tag.“

… und im Libanon…
„Gehen Sie doch zurück in den Libanon und arbeiten dort.“ Hussan muss lachen, wenn er von seinen Erlebnissen im Rathaus berichtet.
Die Geschichte der militärischen und terroristischen Gewalt im Libanon geht viele Jahrzehnte zurück. „Alles hängt mit Allem zusammen“ ist die Aussage des Nah-Ost Experten Michael Lüders, der, durch eine Analyse der Ereignisse und ihrer Verkettungen, die westliche Interventionspolitik, speziell seit 2001, für die anarchistischen Zustände im Nahen Osten verantwortlich macht. Seit Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 wird immer noch im Süden des Landes gekämpft.

Hussan kommt aus der Grenzstadt Baalbak. Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs zählen die libanesischen Behörden um die eine Million dokumentierter „Flüchtlinge“ aus Syrien. Organisationen wie Amnesty International und die Flüchtlingshilfe der UN vermuten eine weitere Million undokumentierter Fliehender im Libanon. Der Arbeitsmarkt wird durch die erhöhte Nachfrage und die wenigen Arbeitsangebote strapaziert und negativ beeinflusst. Besonders Bauunternehmen setzen im Libanon auf billige syrische Flüchtlinge, die für 1-2 Euro die Stunde arbeiten. Normal wäre ein Lohn von ca. 5-6 Euro die Stunde. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst. Das Land steht, trotz der vergleichsweisen demokratischen Strukturen, vor einer innenpolitischen und humanitären Krise.

Die Hälfte seiner Familie hat Hussan an den IS und verschiedene Terrororganisationen aus Syrien verloren. „Die Gewalt ist allgegenwärtig“, versucht er mir klar zu machen, „jeden Tag sterben Menschen bei Angriffen.“ Zuletzt ist Hussans Onkel, ein Angehöriger des libanesischen Militärs, 2016 gefallen. Die Gewalt, die Hussan seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs erleben musste, war jedoch nur eine andere Form der Gewalt, die er 2006 durch die Bombardements Israels schon bereits kannte.

Hussans Mutter ist zu alt, um zu reisen und blieb 2016 im Libanon. Sie lebt in Armut und kommt gerade so über die Runden. Oft schickt ihr Hussan all sein verdientes Geld. Von der Stadt Göttingen bekommt Hussan monatlich um die 300 Euro, von denen er leben muss. Als er 2017 zurück nach Deutschland kam, musste er sich einen Anwalt nehmen, um seine Interessen geltend zu machen. Auch dieser kann nichts an Hussans Situation ändern, kassierte aber 1200 Euro. Von 300 Euro im Monat kann man sich das nicht leisten. Der Satz ist immer noch in Hussans Kopf: „Gehen sie doch zurück in den Libanon und arbeiten dort.“ Er muss mit dem Kopf schütteln, wenn er darüber nachdenkt, was das eigentlich heißt.