Dissertation

Genetische Diversität in der Lichtensteinhöhle – Ableitungen zur Demographie und Interpretationen zu sozialen Strukturen sowie Bestattungssitten in einer bronzezeitlichen Bevölkerung

Zusammenfassung:
Der archäologische Teil der Lichtensteinhöhle, einer Gipskarsthöhle am südwestlichen Rand des Harzgebirges, wurde im Jahr 1980 entdeckt und seither in enger, interdisziplinärer Zusammenarbeit untersucht. Die Bronze- und Keramikfunde ermöglichten eine Datierung der Höhlennutzung in die Urnenfelderbronzezeit, weshalb das in der Höhle entdeckte unverbrannte, menschliche Skelettmaterial einen besonderen Fund darstellte. Weiterhin konnte die Fundsituation als außergewöhnlich beschrieben werden, da zwischen den Skelettelementen kein anatomischer Verbund erkennbar war, sondern die Knochen scheinbar willkürlich verstreut in den verschiedenen Abschnitten der Höhle aufgefunden wurden.
Für die Interpretation der Fundstelle war es erforderlich, die in verschiedenen Kampagnen von 1993 bis 2016 aus der Höhle geborgenen Skelettelemente zu identifizieren, eine Mindestindividuenzahl zu ermitteln und die demographischen sowie verwandtschaftlichen Strukturen zu bestimmen. Das Spektrum der anthropologischen Untersuchungsmethoden umfasste daher morphognostische, morphometrische sowie histologische Befundungen, aber auch zahlreiche molekulargenetische Analysen, welche in verschiedenen Forschungsprojekten durchgeführt wurden. Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wurden abschließende Untersuchungen des Skelettmaterials durchgeführt und die neuen Erkenntnisse mit den bereits vorliegenden Daten zusammengeführt und interpretiert.
Mittels molekulargenetischer Analysen der aus der Lichtensteinhöhle geborgenen Skelettelemente konnten schließlich 57 in der Höhle bestattete Individuen anhand ihres genetischen Fingerabdrucks identifiziert werden. Da sich in der Lichtensteinhöhle insgesamt deutlich weniger Knochen befanden, als es bei 57 Individuen zu erwarten gewesen wäre, ist von einer unvollständigen Einbringung des Skelettmaterials in die Höhle auszugehen, was am ehesten durch das Vorliegen einer Sekundärbestattung erklärt werden kann.
Bezüglich der demographischen Struktur der in der Lichtensteinhöhle bestatteten Gruppe konnten einige Auffälligkeiten festgestellt werden. So wurde für 57% der Individuen ein Sterbealter von unter zwanzig Jahren bestimmt, jedoch gehörten lediglich knapp 16% der gesamten Gruppe der Altersklasse Infans I an. In der Lichtensteinhöhle liegt somit ein Kleinkinderdefizit vor, wobei der Fundkomplex keine Rückschlüsse auf den Grund einer möglicherweise gesonderten Behandlung insbesondere der jüngeren Kinder zulässt. Im Gegensatz zu der Sterbealterverteilung der subadulten Individuen entsprachen die Verhältnisse in den erwachsenen Altersklassen weitgehend den Erwartungen, indem jeweils etwa 20% der Individuen im Adultas, beziehungsweise im Maturitas verstarben, während weniger als 3% ein Alter von über 60 Jahren erreichten. Die Geschlechterverteilung unter den erwachsenen Individuen wies einen deutlichen Frauenüberschuss auf, während das Geschlechterverhältnis in den subadulten Altersklassen ausgeglichen war.
Hinsichtlich der familiären Strukturen, welche anhand der genetischen Fingerabdrücke sowie der mitochondrialen und Y-chromosomalen Haplotypen rekonstruiert werden konnten, zeigte sich, dass in der Lichtensteinhöhle die Knochen von Individuen mehrerer Familiengruppen, aber auch solche von nicht an die rekonstruierte Genealogie angebundenen Individuen bestattet wurden. Die nachgewiesenen Familiengruppen umfassten jeweils zwei oder drei Generationen und es konnten kleine Kernfamilien mit lediglich ein oder zwei Nachkommen, aber auch größere Familien mit bis zu sechs Kindern identifiziert werden.
Die Diversität der mitochondrialen und Y-chromosomalen Haplotypen deutete auf ein patrilokales Residenzverhalten hin. Darüber hinaus wurden die in der Lichtensteinhöhle identifizierten Haplotypen in einen populationsgenetischen Kontext gebracht, was dahingehend von Bedeutung ist, dass aus der späten Bronzezeit nur wenige vergleichbare Daten mitteleuropäischer Skelettserien vorliegen. Der diachrone Vergleich mit anderen europäischen Funden zeigte, dass sich die Gruppe der Lichtensteinhöhle hinsichtlich ihrer Haplotypen gut in die Reihe der Vergleichsdatensätze einfügt und somit genetische Daten vorliegen, welche in diesem Umfang für urnenfelderzeitliche Individuen Mitteldeutschlands bisher nicht verfügbar waren.
Mit der vorliegenden Arbeit konnte ein Abschluss der anthropologischen Bearbeitung des Skelettkollektivs aus der Lichtensteinhöhle erfolgen und ein wichtiger Beitrag zum Verständnis spätbronzezeitlicher Bevölkerungsgruppen Mitteldeutschlands geleistet werden.

Verfügbar bei eDiss