Jugendhäuser in Göttingen? Noch nie gehört!

Eine Reportage auf den Spuren migrantischer Jugendlicher in Göttingen
von Sascha Lehn, Ina Schamoian, Viktoria Scherer und Alisha Müller, 19.08.2019

Jugendliche tummeln sich an öffentlichen Plätzen in der Innenstadt und seufzen über den Mangel an Orten, um ihre Hobbys auszuüben. Und dabei warten Jugendhäuser bereits mit weit geöffneten Türen. Besonders in Stadtteilen mit hohem migrantischen Bevölkerungsanteil bieten sie eine zentrale Anlaufstelle für Zeitvertreib und Teilhabe. Umso wichtiger, dass die Jugendlichen auch auf sie aufmerksam werden.

Artikel Sasha Stadtlabor
Das Jugendhaus Gartetalbahnhof als Oase für (migrantische) Jugendliche. Bild: Sascha Lehn

11. 08. 2019, Gänseliesel, Göttingen. An einem heißen Sonntagnachmittag sammelt sich eine Gruppe von ungefähr 20 Jugendlichen vor dem alten Rathaus. Laute Popmusik dröhnt aus dem mitgebrachten Bluetooth-Lautsprecher, sie gehen in Formation und schon beginnt die Show: Synchrone Bewegungen, kräftiges Stampfen, schwungvoller Streetdance. Die Blicke vorbeigehender Passanten schießen zu den Jugendlichen hinüber, mancherlei Zuschauer beginnt breit zu lächeln, andere zeigen genervte Mienen, wiederum andere ziehen reaktionslos weiter.

Die Gruppe kümmert sich jedoch offenbar nicht um die Meinung des Publikums. Sie scheint nur in und für sich zu existieren. „Wir treffen uns einfach, weil wir gemeinsam Spaß am Tanzen haben. Manche von uns kennen sich gar nicht“, teilt uns eine der Tänzerinnen während einer kurzen Erholungspause mit. Die Gruppe treffe sich üblicherweise am Gänseliesel oder vor dem Bahnhof, um zu tanzen. „Hauptsache ist, es gibt viel Platz. Nur die Gastronomie stört“, betont eine andere Tänzerin unter zustimmendem Kopfnicken von sechs weiteren Jugendlichen. Interessiert fragen wir, ob es denn auch andere geeignete Plätze in Göttingen geben würde. Einige der Jugendlichen zucken mit den Schultern oder gucken ernüchtert weg. Die gleiche Tänzerin wie zuvor antwortet verzögert: „Es gibt halt nur wenig Orte, aber für Göttingen reicht’s.“ Offenbar erwartet diese Gruppe wenig von dem Jugendangebot einer kleinen Stadt wie Göttingen und nutzt dieses daher auch so gut wie nicht. Nur ein einziger Jugendlicher von den ca. 20 anwesenden meint bereits von Göttinger Jugendzentren gehört zu haben und ihre Angebote hin und wieder wahrzunehmen. Wir fragen uns, wie es kommt, dass diese Jugendlichen kaum Kenntnis von den Jugendeinrichtungen in der Stadt haben.

„Der große Gemeinschaftsraum wird aber kaum genutzt.
Die Mädchen sind hauptsächlich im Tanzraum und die Jungs spielen“


Jugendhaus Gartetalbahnhof – festes Programm toppt freies Angebot
Das westlich der Innenstadt gelegene Jugendhaus Gartetalbahnhof versucht gemeinsam mit weiteren in der Stadt verstreuten Einrichtungen den Jugendlichen Göttingens einen eigenen Raum zu geben. Beim Betreten des Hauses merken wir gleich: Hier lässt es sich aushalten. Zuerst gelangen wir in einen großen Gemeinschaftsraum, ausgestattet mit Tischen und Stühlen, Gesellschaftsspielen, einer Sitzecke um einen Monitor mit angeschlossener PlayStation 4 und einer Durchreiche zur Küche. In dieser können die Jugendlichen selbst kleinere Dinge zubereiten, kostenlos auf Vorräte im Kühlschrank zugreifen oder unter Betreuung auch größer angelegte Koch- und Backprojekte starten, erklärt eine Mitarbeiterin. Außerdem verfügt das Gebäude noch über einen Tanzraum mit Spiegelwand sowie über einen Kicker-/ Billardraum, der zusätzlich noch mit einem Boxsack versehen ist. „Der große Gemeinschaftsraum wird aber kaum genutzt. Die Mädchen sind hauptsächlich im Tanzraum und die Jungs spielen Billard“, teilt uns die Mitarbeiterin mit. Sie fügt an, dass jedoch die meisten Jugendlichen bei angeleiteten Workshops auftauchen würden, nämlich Tanzen, bei welchem überwiegend Mädchen erscheinen und Boxen, welches eher von Jungen wahrgenommen wird. Hier eröffnet sich eine interessante Perspektive für unsere obige Frage: Nach was für Angeboten suchen Jugendliche eigentlich?

Laut den Aussagen der Mitarbeiterin des Jugendhauses, liege das Hauptinteresse der Besucher*innen bei den Workshops, also dem vorgegebenen Programm. Das Angebot, einen offenen Raum zum „Abhängen“ oder zu individueller Freizeitgestaltung zur Verfügung stehen zu haben, erfährt hingegen sehr wenig Resonanz. Bei Kurzinterviews mit zehn Jugendlichen in der Innenstadt hat sich außerdem die Tendenz erkennen lassen, dass die Mehrzahl von ihnen zum „Abhängen“ abgelegenere Orte wie die Leine, den Cheltenhampark oder die Schillerwiesen bevorzugen. Weniger beliebt unter den Jugendlichen sind das Carré, das Gänseliesel und der Waageplatz, da diese zu stark besucht seien. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Jugendliche in Jugendhäusern keine Orte zum Aufhalten, sondern schlichtweg ein festes Freizeitprogramm suchen. Doch eben ein solches Programm ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Das Jugendhaus Gartetalbahnhof verfolge einen „Offene-Tür-Ansatz“, so die Mitarbeiterin. Das heißt, jede*r Jugendliche sei eingeladen, dazuzukommen und könne am offenen Angebot teilhaben. Das Problem ist nur, man muss dafür erst einmal dort hingehen. Auf den Webseiten der Jugendhäuser, sofern überhaupt welche vorhanden sind, lässt sich erstaunlich wenig über aktuelle Programme finden. Mit ausgearbeiteten Wochenplänen können hier nur das Juzi und das UJZ Weende überzeugen. Wenn mehr Jugendhäuser eine verstärkte Onlinepräsenz in Hinblick auf ihr konkretes Angebot zeigen würden, könnte womöglich schon einiges an Interesse bei den Jugendlichen geweckt werden. Denn zumindest eins ist klar: Zum „Gammeln“ kommen die nicht!

Jugendhäuser offen für alle?
„Die meisten Besucher sind Neuzugewanderte aus der Groner Landstraße“, erläutert die Mitarbeiterin des Jugendhaus Gartetalbahnhof. Dabei handle es sich vor allem um Jugendliche aus Rumänien. Vergleichsweise gering sei der Anteil an deutschsprachigen Besucher*innen. Daher finden Sprachen wie Rumänisch und ebenfalls Romani sehr häufige Anwendung im alltäglichen Arbeitsumfeld der Mitarbeiter*innen. Die Sprachbarriere sei ein großes Hindernis für den Zusammenhalt unter den Jugendlichen. Gruppenzugehörigkeit werde außerdem über Wohnort, Schule und Herkunft definiert. Umso größer erscheint der Bedarf an einer leitenden Person, die Programme vorgibt und für jede*n ansprechbar ist. Die Jugendarbeit hier hat es also in sich. Zu den Anforderungen an die Mitarbeiter*innen zählen daher vor allem interkulturelle Kompetenzen, Durchsetzungsvermögen und „ein dickes Fell“, wie uns unsere Kontaktperson aus dem Jugendhaus lächelnd mitteilt.

„Im Hagenweg gibt es die musa, das Haus der Kulturen und das Jugendzentrum Maschmühle.“


Um möglichst alle Besucher*innen in diesem multikulturellen Umfeld erreichen zu können, fokussiert sich das Jugendhaus Gartetalbahnhof auf ein sogenanntes niedrigschwelliges Angebot: Sport, Spiel und Spaß stehen im Vordergrund. Im Kontrast hierzu führt eine Mitarbeiterin das höherschwellige Angebot des Jugendtreffs Point Six in der Innenstadt an. Dort würde man Musikinstrumente spielen und Poetry-Slams veranstalten. Dies sei möglich, da primär deutschsprachige Jugendliche zu dessen Zielgruppe gehören. Zu schwerwiegend seien die Sprachbarriere und unterschiedlichen Bildungshintergründe, um vergleichbare Aktivitäten im Jugendhaus zu etablieren. Hierdurch ergibt sich deutlich der Eindruck einer gesellschaftlichen Spaltung: schlecht integrierte Jugendliche gehen eher zum Jugendhaus Gartetalbahnhof, gut integrierte zum Point Six. Natürlich stehen die Türen jeder Jugendeinrichtung in Göttingen grundsätzlich offen für alle. Jedoch zeigt die Betrachtung des Jugendhaus Gartetalbahnhof, dass dennoch eine Ausrichtung auf die Bedürfnisse bestimmter Zielgruppen erforderlich und wichtig ist. „Migrantischen Jugendlichen müssen mehr Räume und Möglichkeiten geboten werden“, fordert die Mitarbeiterin des Jugendhaus Gartetalbahnhof. Aber welche Einrichtungen in Göttingen liefern diese?

Jugendhäuser als Anlaufstelle für migrantische Jugendliche
Abgesehen von der Gegend um das Jugendhaus Gartetalbahnhof sei besonders in der Weststadt der Bedarf an Einrichtungen mit migrantischem Profil sehr hoch, erklärt uns ein Vertreter der Jugendhilfe Göttingen. „Im Hagenweg gibt es die musa, das Haus der Kulturen und das Jugendzentrum Maschmühle.“ Dort sind sie gut positioniert, denn wie wir aus Interviews mit der musa und dem Haus der Kulturen erfahren haben, seien in der Weststadt eine Vielzahl verschiedener migrantischer Gruppen angesiedelt, unter anderem Menschen aus dem Irak, Syrien sowie Roma. Die musa bietet für Jugendliche angeleitete Workshops zu Theater, Tanz und Musik an, das Haus der Kulturen stellt ihnen offene Räumlichkeiten zur Verfügung und das Jugendzentrum Maschmühle bewegt sich in ähnlichem Rahmen wie das Jugendhaus Gartetalbahnhof. Unser Gesprächspartner aus dem Haus der Kulturen erklärt jedoch, dass ihr Jugendangebot wegen sehr geringer Nutzung eingestellt werde. Ihr Fokus liege ohnehin hauptsächlich auf den erwachsenen Migrant*innen. Die einzigen Jugendlichen, die man im Gebäude antreffe, seien dort, um Sozialstunden abzuleisten. Auch die musa habe früher offene Räume für Jugendliche bereitgestellt, erläutert eine Mitarbeiterin. Heutzutage gelte dieses Angebot aber nicht mehr, da nicht verantwortungsbewusst mit diesen umgegangen worden sei. Die Workshops der musa richten sich grundsätzlich an alle Jugendlichen und haben keine explizit migrantische Ausrichtung. Sie seien gut besucht, jedoch größtenteils von deutschsprachigen Jugendlichen. Interessante Möglichkeiten jenseits von Sprachbarrieren und unterschiedlichen Bildungshintergründen zu schaffen, ist also nach wie vor eine Aufgabe, der einzig Jugendhäuser mit migrantischem Profil gerecht zu werden scheinen.

Dass die von uns befragten Jugendlichen die Angebote der Jugendeinrichtungen kaum wahrnehmen, erscheint nun weniger verwunderlich, denn die meisten werben mit offenen Räumlichkeiten, die niemand will. „Abhängen“ tut man woanders. Festes Programm ist das, was interessiert und dieses müssen die Jugendlichen auch online einsehen können, bevor sie den ersten Schritt ins Jugendhaus wagen. Besonders für neu zugewanderte Jugendliche sind die Jugendhäuser von zentraler Bedeutung, denn sie liefern als einzige in Göttingen die Möglichkeit, sich trotz Sprachbarriere interkulturell zu vernetzen, und tragen somit enorm zur Integration bei. Umso wichtiger erscheint es, dass sie mit den Interessen der Jugendlichen werben und diese so verstärkt für sich begeistern.