„Gemeinschaftsfremde“ und „Staatsfeinde“: Intergenerationale Handlungs- und Erinnerungsstrukturen in Familien stigmatisierter NS-Opfer in Österreich und Deutschland

Projektleiterin: Prof. Dr. Maria Pohn-Lauggas
Projektkoordination: Dr. Miriam Schäfer

Laufzeit: März 2021 bis Februar 2024

Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 442960441

In diesem Projekt werden Konstruktionsprozesse von Familiengedächtnissen und die intergenerationalen Folgen von Verfolgungserfahrungen von NS-Opfern und Überlebenden, die vor und nach 1945 sozial stigmatisiert wurden, untersucht.
Im Fokus stehen die Nachkommen der Menschen, die als „Gemeinschaftsfremde“ oder „Staatsfeinde“ der sogenannten NS-Volksgemeinschaft verfolgt, deportiert und ermordet wurden. In Rahmen dieses Projektes konzentrieren wir uns auf die Gruppierungen, die aufgrund sozialrassistischer Kategorisierungen als „Homosexuelle“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden, sowie auf Deserteure und die Zeugen Jehovas.

Ihre Erfahrungen wurden nicht Teil des deutschen und österreichischen kollektiven Gedächtnisses und blieben im öffentlichen Gedenken unsichtbar. Die Gründe hierfür sind in den verleugnenden öffentlichen Diskursen zu finden, in der auch nach 1945 fortbestehenden stigmatisierten sozialen Position der Betroffenen und nicht zuletzt im Fehlen von um Anerkennung kämpfenden Opfer- und Verfolgtengruppen. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich jahrzehntelang nicht für sie interessiert.
Was die Gruppierungen und ihre Erfahrungen aber unterscheidet, ist die Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe (Elias) wie etwa Verfolgten- und Überlebendenverbände. Die Zeugen Jehovas bilden als Religionsgemeinschaft eine solche Wir-Gruppe, während die als „Homosexuelle“, „Berufsverbrecher“ und Deserteure verfolgten keiner Wir-Gruppe angehörten und auch nach 1945 keine ausbildeten. Fehlt ein solche Wir-Gruppe kann kein (Gegen-)Gedächtnis ausgebildet werden Dies hat Auswirkungen auf die biographisch etablierten Handlungsstrukturen und intergenerationalen Erinnerungsstrukturen. Die empirische Klärung wie sich soziale Stigmatisierung, diskursive Unsichtbarkeit und Wir-Gruppen-Zugehörigkeit auf die Handlungs- und Erinnerungsstrukturen der Nachkommen der Opfergruppierungen auswirken, ist Ziel dieser Forschung.
Diesem Interesse soll auf Basis von biographisch-narrativen Interviews, Familiengesprächen und Diskursanalysen in einer Mehrgenerationen-Studie nachgegangen und die Strukturen verglichen werden. Dabei wird ein kontrastiver Vergleich von Gruppierungen in Österreich und in der Bundesrepublik angestrebt. Damit soll eine bestehende Lücke in der sozialwissenschaftlichen Mehrgenerationen-Forschung zu den Folgen des Nationalsozialismus in der deutschen und österreichischen Gegenwartsgesellschaft geschlossen werden, die sich bisher insbesondere mit Wirkungen in Täter/innen- und (meist jüdischen) Opfer- und Überlebendenfamilien beschäftigt hat.