Finanzierung des Anonymen Krankenscheins wird gestrichen – Prekäre Situation der medizinischen Versorgung von Geflüchteten und Illegalisierten verschärft sich.

Ein Kommentar zur Arbeit des medinetz Göttingen
von Sophie Hübner, 19.08.2019

Im Dezember letzten Jahres lief das Projekt „Anonymer Krankenschein“ des medinetz e.V. aus, dass vom Land Niedersachsen finanziert wurde. 2015 wurden in Göttingen und Hannover hierfür Vergabestellen geschaffen, die illegalisierten Personen die Möglichkeit boten, anonym ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen. Für Menschen ohne Aufenthaltsstatus war das eine große Hilfe: Wenn sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen möchten, entscheidet in solchen Fällen das Sozialamt, ob ein Anspruch besteht und meldet nicht registrierte Personen bei Kenntnisnahme sofort an die Ausländerbehörde. Ein angstfreier Besuch bei einem Arzt oder einer Ärztin wird so verunmöglicht.

Das Projekt hatte schon zu Beginn Probleme. Als die Idee vom Göttinger medinetz und dem Berliner Medibüro entwickelt wurde, wurde zunächst die Stadt Göttingen um Finanzierung des Projektes gebeten. Diese lehnte jedoch direkt ab. So wurde in nächster Instanz beim Land Niedersachsen angefragt.

Damals, unter rot-grüner Regierung, stimmte das niedersächsische Sozialministerium dem Modell- Projekt zu und es wurde ein Fonds in Höhe von 500.000 Euro jährlich geschaffen. Weiterhin wurden zwei Vergabestellen in Göttingen und Hannover eingerichtet. Die große Koalition hat das Projekt nun auslaufen lassen. Der Bedarf jedoch bleibt weiterhin bestehen.

Illegalisierten droht bei ärztlicher Versorgung eine Abschiebung. Eine Gesetzesänderung, die den Personen eine ärztliche Versorgung ohne Identitätsfeststellung ermöglichen würde oder Zugang zu medizinischer Hilfe für alle Menschen ohne Einschränkung sicherstellt, ist in Niedersachsen nicht in Sicht. Stadt, Land und Bund entziehen sich damit der Verantwortung und wälzen sämtliche Arbeit auf das Ehrenamt ab.

Die Vergabestellen des Anonymen Krankenscheins wurden geschlossen und die Menschen müssen wieder ehrenamtlich über das medinetz versorgt werden. Damit stiegen die Klient*innenzahlen bei medinetz Göttingen nach eigener Aussage im Jahr 2019 um das 3-4-fache. Dort werden die Betroffenen beraten und zu Arzt- und Ärztinnenbesuchen sowie Behördengängen begleitet. Außerdem werden Personen dort bei der Finanzierung ihrer medizinischen Versorgung unterstützt.

Der größte Netzwerkpartner des medinetz Göttingen ist das Migrationszentrum. Das liegt auch daran, dass die Hauptzielgruppe Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind. Das können beispielsweise Menschen aus dem EU-Ausland sein, da es für bestimmte Gruppen, z.B. Sinti und Roma, nicht in allen EU-Ländern einen Krankenversicherungsschutz gibt.

Auch Menschen, die sich im Asylverfahren befinden, haben nur einen eingeschränkten rechtlichen Zugang zu ärztlicher Versorgung. Da die Gesetze hierbei sehr schwammig formuliert sind, haben sowohl Mediziner*innen als auch die städtische Verwaltung einen großen Handlungsspielraum. Personen ohne deutschen Pass sind dabei bei der Beurteilung ihres Behandlungsbedarfes auf den*die Sachbearbeiter*in des Sozialamtes angewiesen, welche in den allermeisten Fällen keine oder kaum medizinische Fachkenntnisse besitzen.

Probleme bei der Arbeit des medinetz entstehen vor allem durch fehlende personelle und finanzielle Ressourcen. So lassen beispielsweise chronische Krankheiten, lange Krankenhausaufenthalte oder Schwangerschaften der Klient*innen die Ehrenamtlichen an ihre Grenzen stoßen. Trotz Unterstützung der Stadt reißt der Wegfall des anonymen Krankenscheins ein großes finanzielles Loch in die Ressourcen des medinetz. Politiker*innen, die immer wieder betonen, wie wichtig europäische Werte sind, und diese medienwirksam hochhalten, sind nun in der Pflicht. Eine tatsächliche Umsetzung der europäischen Charta der Grund- und Menschenrechte, welche u.a. in Artikel 35 das Recht einer jeden Person auf eine ärztliche Versorgung vorsieht, ist unabdingbar. Auch das medinetz wünscht sich vor allem eines: die Übernahme von Verantwortung durch Stadt, Bund und Land, um eine grundlegende ärztliche Versorgung sicherzustellen.