Kurze Geschichte des Instituts

Das Göttinger Institut für Theoretische Physik kann auf bedeutende Beiträge zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften zurückblicken. Dies gilt ganz besonders für die Zeit von 1925 bis 1927, als Max Born und seine jüngeren Mitarbeiter Werner Heisenberg und Pascual Jordan in diesem Institut wesentliche Teile der Quantenmechanik entwickelten. Heisenbergs Unschärferelation und Borns Wahrscheinlichkeitsdeutung des Feldes der Materiewellen haben unser Verständnis der Natur in revolutionärer Weise verändert: Sie beinhalten die Unzulänglichkeit unserer alltäglichen Begriffswelt bei der Beschreibung von Vorgängen im Mikrokosmos der Atome und Elementarteilchen. Die Quantenmechanik ist aber keineswegs nur eine "weltfremde" Theorie für Naturphilosophen ohne Auswirkungen auf praktische Belange unseres Lebens. Ganz im Gegenteil – sie bildet beispielsweise die Grundlage für das Verständnis der elektrischen und magnetischen Vorgänge in Festkörpern, auf denen letztlich unsere gesamte Informationstechnologie beruht. Auch die moderne Chemie und Biologie sind ohne Quantenmechanik fast undenkbar. Für ihre "Göttinger Arbeiten" erhielten Max Born (1954) und Werner Heisenberg (1932) den Nobelpreis.



Wissenschaftliche Preise

2023

Universitätsmedaille ,,In Publica Commoda" für Prof. Dr. Annette Zippelius

AZ_2023_pic_253e6b2e3820231208110639 Die Physikerin Prof. Dr. Annette Zippelius erhielt die Universitätsmedaille „In Publica Commoda“ für ihre vielfältigen Verdienste um die Universität in Bezug auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, insbesondere im Bereich der Lehrkräftebildung. Zippelius wurde 1988 auf den Lehrstuhl für Theoretische Physik an der Universität Göttingen berufen und war damit die erste C4-Physik-Professorin in Deutschland. Die Universitätsmedaille „In Publica Commoda“ wird an Persönlichkeiten vergeben, die sich um die Universität, ihre im Leitbild festgehaltenen Ziele und ihre Anliegen verdient gemacht haben.

Mitgliedschaft der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina für Prof. Dr. Annette Zippelius

Die Leopoldina ist die Nationale Akademie der Wissenschaften. Sie bearbeitet unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesellschaftliche Zukunftsthemen aus wissenschaftlicher Sicht, vermittelt die Ergebnisse der Politik und der Öffentlichkeit und vertritt diese Themen national wie international.

2022

Born-Franck-Dissertationspreis für Dr. Daniel Reichelt

Für seine Promotionsarbeit: "Predictions to all orders in perturbative Quantum Chromodynamics for high energy collider experiments"

Max-Planck-Medaille für Prof. Dr. Annette Zippelius

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) hat ihre höchste Auszeichnung für theoretische Physik Prof. Annette Zippelius verliehen "in Würdigung ihrer fundamentalen Beiträge, welche die statistische Physik kondensierter Materie konzeptionell wie methodisch nachhaltig beeinflusst haben; insbesondere für ihre herausragenden Arbeiten zu den Schmelzübergängen dünner Filme, zur statistischen Theorie neuronaler Netze und zur Dynamik granularer Gase.“

2020

Born-Franck-Dissertationspreis für Dr. Sebastian Päckel

Für seine Promotionsarbeit: "Topological and non-equilibrium superconductivity in low-dimensional strongly correlated quantum systems"

2019

Dr. Berliner- Dr. Ungewitter-Preis für Dr. Ludwig Schneider

Für seine Promotionsarbeit: "Rheology and Structure Formation in Complex Polymer Melts"

2018

Dr. Berliner- Dr. Ungewitter-Preis für Dr. Markus Schmitt

Für seine Promotionsarbeit: "Dynamics of isolated quantum many-body systems far from equilibrium"

2017

Wilhelm-Ostwald-Medaille der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig für Prof. Dr. Annette Zippelius

Die Wilhelm-Ostwald-Medaille wird in Anerkennung besonderer wissenschaftlicher Leistungen vorwiegend auf dem Gebiet der Natur- und der Ingenieurwissenschaften verliehen.

Heraeus-Professur (ab Oktober 2017 für 3 Jahre) für Prof. Dr. Annette Zippelius

Die WE-Heraeus-Seniorprofessur wird seit 2008 an erfahrene Fachwissenschaftler/innen aus der Physik vergeben. Bis 2012 war die Seniorprofessur ausschließlich auf die Verbesserung der Situation von Lehramtsstudierenden ausgerichtet. Inzwischen hat die Stiftung die Bestimmung verallgemeinert zu einem „innovativen Beitrag zur Ausbildung im Fach Physik“, d. h. ohne Beschränkung auf die Ausbildung angehender Lehrer/innen, auch wenn diese weiter im Fokus der Förderung bleiben soll.

Dr. Berliner- Dr. Ungewitter-Preis für Dr. Benjamin Lenz

Für seine Promotionsarbeit: "Unconventional Phases in Two-Dimensional Hubbard and Kondo-Lattice Models by Variational Cluster Approaches"

2010

Dr. Berliner- Dr. Ungewitter-Preis für Dr. Stephan Ulrich

Für seine Promotionsarbeit: "Aggregation and Gelation in Random Networks"

2008

Max-Planck-Medaille für Prof. Dr. Detlev Buchholz

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft verleiht ihre höchste Auszeichnung für theoretische Physik an Prof. Dr. Detlev Buchholz (63), Universität Göttingen, Institut für Theoretische Physik, "für seine herausragenden Beiträge zur Quantenfeldtheorie"

2006

Orden für Prof. Dr. Annette Zippelius Theoretische Physik (April 2006)

Die Göttinger Physikerin Prof. Annette Zippelius ist gestern mit dem Verdienstkreuz am Bande des Niedersächsischen Verdienstordens ausgezeichnet worden.
Der Niedersächsische Wissenschaftsminister Lutz Stratmann würdigte ihre "hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen" in einer Disziplin, in der bis heute nur sehr wenige Wissenschaftlerinnen tätig seien. Zippelius ist seit 1988 Professorin für theoretische Physik an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie ist Vorstandsmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und Mitglied des Wissenschaftsrates.
Mit freundlicher Genehmigung:
Göttinger Tageblatt am 22. April 2006

2004

John H. Dillon Medal der American Physical Society für Prof. Dr. Marcus Müller

Für die Entwicklung starker analytischen und numerischen Methoden und ihre Anwendung auf die Struktur und die Dynamik der Polymere.

Dr. Berliner-Dr. Ungewitter-Preis für Dr. Henning Löwe

Für seine Promotionsarbeit: "Critical dynamics of gelling polymer solutions"

2000

Dr. Berliner- Dr. Ungewitter-Preis für Dr. Henning Bostelmann

Für seine Promotionsarbeit: "Lokale Algebren und Operatorprodukte am Punkt"

1998

Leibniz Preis 1998 für Prof. Dr. Annette Zippelius

In Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern gelang ihr die Konstruktion eines exakt lösbaren Netzwerk-Modells, das die Funktionseigenschaften eines assoziativen Gedächtnisses hat. Ihre weiteren Fragestellungen im Bereich der neuronalen Modelle beschäftigen sich mit Mechanismen der synaptischen Übertragung als Grundlage von Selbstorganisation und Lernprozessen.

1994

Max Planck Medal to Prof. Dr. Hans-Jürgen Borcher

Max-Planck-Medaille für Prof. Dr. Hans-Jürgen Borcher Die Max-Planck-Medaille ist die höchste Auszeichnung der DPG für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der theoretischen Physik. Sie wird namentlich für solche Beiträge vergeben, die sich an Max Plancks Werk anschließen.
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Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Theoretischen Physik in Göttingen

Woldemar Voigt
Die Physik in Göttingen beginnt ungefähr mit der Universitätsgründung in der Mitte des 18. Jahrhunderts und ist durch Namen wie Abraham Gotthelf Kästner, Tobias Mayer, Johann Ch. P. Erxleben und besonders Georg Christoph Lichtenberg bekannt geworden. Der Schüler, Mitarbeiter und spätere Kollege von Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber zeichnete sich nicht nur als Physiker, sondern auch als freiheitlich denkender Bürger aus. Schon zu seiner Zeit, also etwa ab 1849 entsprachen die beiden ordentlichen Lehrstühle des Fachs Physik in Göttingen (Weber, Listing) in etwa der Aufteilung in experimentelle und theoretische (mathematische) Physik. Die Abteilung "mathematische Physik" des physikalischen Instituts wurde durch so bekannte Physiker wie Woldemar Voigt (1850-1919, ab 1883 in Göttingen), Peter Debye (1884-1966, in Göttingen 1914-1920) und Max Born (1882-1970, in Göttingen 1921-1933) geleitet. Unter Letzterem erfolgte 1922 die Umbenennung in "Institut für Theoretische Physik".
Max Born
(ca. 1925)
Mit Max Born (er erfand den Begriff Quantenmechanik 1924) und seinen Mitarbeitern Werner Heisenberg und Pascual Jordan erreichte die theoretische Physik in Göttingen im 20. Jahrhundert einen Höhepunkt durch ihren wesentlichen Anteil an der Entwicklung und Vollendung der Quantenmechanik (1925-1927). Nach der Einführung des Energiequantums durch Planck und Einsteins Idee von der quantenhaften Natur des Lichts hatte die ältere Atommechanik die atomaren Spektren mit Hilfe von Bohrs anschaulichem Atommodell erklärt.
Werner Heisenberg
(approx. 1926)

Es war Heisenberg, der aus dem beobachteten Energiespektrum der Atome einen mathematischen Formalismus herausdestillierte, der es erlaubte, beobachtbare Größen wie Frequenz, Intensität und Polarisation der Strahlung ohne Rückgriff auf ein Modell zu berechnen. Born erkannte die zugrundeliegende mathematische Struktur (Matrizen, Operatoren); er und seine jungen Mitarbeiter Heisenberg und Jordan formten sie zusammen mit ihm zur Matrizenmechanik aus. 1926 entwickelte Schrödinger die sog. Wellenmechanik, die Materiewellen im Sinne von de Broglie beschreiben sollte.

Born zeigte dagegen, dass die Wellenfunktion Schrödingers mit einer Wahrscheinlichkeitsinterpretation verknüpft ist, welche die Wahrscheinlichkeit für den Ort und den Impuls des Teilchens angibt. Borns Wahrscheinlichkeitsdeutung und Heisenbergs Unschärferelation haben unser Verständnis der Natur in revolutionärer Weise verändert.

Sowohl Max Born als auch Werner Heisenberg erhielten später den Nobelpreis (1954 bzw. 1932). Heisenberg (1933), Jordan (1942), Hund (1943), Born (1948) und Debye (1950) wurden mit der Max-Planck-Medaille, der höchsten Auszeichnung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, geehrt.

Wellenmechanische Bilder des Wasserstoffatoms in vier verschiedenen Anregungszuständen:
Die Helligkeit ist ein Maß für die Warscheinlichkeitsdichte, ein Elektron an diesem Ort anzutreffen.


Maria Göppert-Mayer

Liest man die Namen von damaligen Mitarbeitern und Gästen im Institut für Theoretische Physik wie Pauli, Hückel, Nordheim, Fermi, London, Hund, Heitler, Fock, Wigner, Herzberg, Göppert-Mayer, Ehrenfest, Oppenheimer, Delbrück, Weißkopf, Bloch und Teller (unter anderen nicht viel weniger bekannten), so kann man die goldenen Jahre des Göttinger Instituts für Theoretische Physik begreifen. Von Bedeutung war die Wechselwirkung mit Experimentalphysikern wie Franck und Pohl, dem Strömungsphysiker Prandtl sowie Mathematikern wie Hilbert, Klein, Runge und Weyl.

Max Reich, Max Born,
James Franck, Robert Pohl

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte dieser Blütezeit ein jähes Ende. Born wurde suspendiert und 1935 seines Amtes enthoben. Er wurde zunächst von Fritz Sauter vertreten. Richard Becker (in Göttingen 1936-1955), der die Stelle auf Anweisung übernahm (er hatte sich kurz vorher mit Erfolg um die Nachfolge von Sommerfeld in München beworben), hielt das Niveau in Forschung (magnetische und plastische Eigenschaften von Metallen) und Lehre aufrecht. Sein Doktorand Richard Krömer erhielt im Jahr 2000 den Nobelpreis für Physik. Friedrich Hund, der seit 1957 das Institut leitete, konnte den Anschluss an die frühere internationale Bedeutung des Instituts herstellen. Seine Entdeckung des Tunneleffekts, die Hund'sche Regel und die Hund-Mulliken-Theorie ermöglichten die effiziente Anwendung der Quantenmechanik auf die Kernphysik, die Molekülphysik und die Chemie. Inzwischen war offensichtlich geworden, dass die Grundlagenforschung der 20er und 30er Jahre zu lebensfeindlichen Anwendungen in Form von Kernwaffen missbraucht wurde. 1957 fanden sich daher führende deutsche Wissenschaftler, darunter neben Otto Hahn, Max von Laue und Carl-Friedrich von Weizsäcker auch die alten Göttinger Max Born und Werner Heisenberg, zur Göttinger Erklärung gegen atomare Bewaffnung der Bundeswehr und gegen die weltweite atomare Aufrüstung zusammen.

Als Folge der Diskussionen um den "Bildungsnotstand" in der Bundesrepublik konnten sich die Universitäten erweitern. Für die theoretische Physik in Göttingen brachten die 60er Jahre nach dem Hundschen Motto "klein aber fein" eine bescheidene personelle Vergrößerung des Instituts von einem ordentlichen (Hund) und einem außerordentlichen Professor (Helmut Steinwedel) auf drei (ordentliche) Professorenstellen sowie deren Ausstattung mit wissenschaftlichen Assistenten. Sie wurden durch den von Laue-Schüler Max Kohler, der auf den Gebieten der Transporttheorie und alternativen Gravitationstheorien arbeitete, und die späteren Träger der Max-Planck-Medaille Gerhart Lüders und Hans-Jürgen Borchers besetzt. Neben der Physik der kondensierten Materie und, vorübergehend, der Kernphysik trat nun die Quantenfeldtheorie als ein weiteres Hauptarbeitsgebiet hervor. Mit dem Pauli-Lüders- (TCP-) Theorem und den sog. Borchers-Klassen der axiomatischen Quantenfeldtheorie sind wichtige Höhepunkte dieses Gebietes benannt. Dieses Gebiet verstärkten seit den 70er Jahren Helmut Reeh, Gerhard Hegerfeldt und Hansjörg Roos. 1987 wurde Arthur S. Wightman die Ehrendoktorwürde verliehen.

Kennzeichen der 70er und 80er Jahre waren große Studentenzahlen ("Überlast"), eine nochmalige Erweiterung des Lehrkörpers auf bis zu 8 Professoren und die Umgestaltung des Instituts in ein "Department" mit rotierender Besetzung des Geschäftsführers. Mit der Berufung von Hubert Goenner wurden die wissenschaftlichen Arbeitsgebiete auch auf die Relativitätstheorie ausgedehnt. 2 - 3 regelmäßig am Institut tätige Privatdozenten trugen ihren Teil zur Forschung und Lehre bei. Kurt Schönhammer baute die Theoretische Festkörperphysik aus, Annette Zippelius wurde zusammen mit Reiner Kree das Zentrum des Forschungsschwerpunktes "Statistische Physik". Sie erhielt den Leibniz-Preis und 2022 die Max-Planck-Medaille. In den 90er Jahren erfolgte dann wegen der Finanzlage des Landes durch die Fakultät ein "Rückbau" durch Streichung zweier Professorenstellen am Institut.

Detlev Buchholz als Nachfolger von Borchers setzte die Forschung auf dem Gebiet der mathematischen und axiomatischen Quantenfeldtheorie fort. Auch er wurde mit der Max-Planck-Medaille ausgezeichnet. Karl-Henning Rehren ergänzte seine Forschung mit konformer Quantenfeldtheorie. Zu dieser Zeit richtete die Fakultät als experimentelle Ergänzung einen neuen Forschungsschwerpunkt "Teilchenphysik" am 2. Physikalischen Institut ein.

2003 zog das Institut in den Neubau der Fakultät am Friedrich-Hund-Platz in den Nordbereich um. Mit dem Bologna-Prozess und der Umstellung auf neue Studiengänge veränderten sich die Aufgaben in der Lehre. Gleichzeitig wurde das Institut durch zahlreiche Promotions-Studentinnen und -Studenten sowie PostDocs immer internationaler. Marcus Müller erweiterte die Statistische Physik auf Anwendungen in der Biophysik. In den 2010er Jahren entwickelte sich eine neue thematische Klammer "Nichtgleichgewicht" zwischen klassischer und Quantenphysik, die sich von der Kosmologie (Laura Covi) über hochkorrelierte Elektronen (Stefan Kehrein, Thomas Pruschke, Fabian Heidrich-Meisner) zu komplexen Systemen und aktiver Materie (Peter Sollich, Matthias Krüger) spannt. Peter Blöchl (TU Clausthal) hielt regelmäßige Vorlesungen zur theoretischen Festkörperphysik. Steffen Schumann wechselte von der 2. Physik ins Institut für Theoretische Physik, um numerische Methoden für die Beschleunigerphysik fortzuentwickeln. Stefan Klumpp (Institut für Dynamik komplexer Systeme) wurde assoziiertes Mitglied des Instituts.

Im Juni 2022 feierte das Institut seinen 100sten Geburtstag mit einem wissenschaftlichen Festsymposium.

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jh, Last modified: Wed June 23 15:29:02 CEST 2022