"Can you hear the music?!" Sound Systems an der Schnittstelle von Handwerk, kulturellem Leben, und Musik(-wissenschaft)

Inhaltliche Beschreibung des Projektes

Ein Sound System ist eine oftmals eigenhändig gebaute mobile Verstärkereinheit für eingespeiste Klangereignisse. Es verstärkt elektrische Schallsignale mit hoher Qualität und gibt sie laut sowie sich in einem ausgewogen-differenzierten Frequenzspektrum bewegend wieder. Wo eine Menschenmenge zusammenkommt, um sich gemeinsam beschallen zu lassen, werden Sound Systems eingesetzt. Unter dem Schirm der laut wiedergegebenen Musik ermöglichen sie ein soziales Erleben, bei dem gleichzeitig (politische) Vorstellungen wie Selbstbestimmung und finanzielle Unabhängigkeit, künstlerische Gestaltungsfreiheit sowie ein ausgeprägter Kollektivgedanke erfahren werden können.
Aber auch bei der Produktion von Musik werden die Klangeigenschaften sowie akustisch-ästhetischen Potenziale von Sound Systems genutzt. Sound Systems sind mobil und unterscheiden sich von herkömmlichen PA-Anlagen darin, dass sich um sie herum, Ende der 1960er von Jamaika ausgehend, eine Kultur mit distinkten musikalischen/klanglichen und kulturellen Merkmalen und Erkennungszeichen entwickelt hat, die sich in Dub-Musik zuerst prominent ausdrückten.
Ohne Sound Systems hätte Dub-Musik nicht entstehen können. Rhythmus, Bass sowie hoher Schalldruck, bei spielerischem Umgang mit den im Studio aufgenommenen, einzelnen Spuren, stehen bei ihr im Vordergrund. Dub verbindet also von Anfang an Studiomusik mit elektronischer Klangmanipulation. Als eines der ersten Musik-Genres machte es das Mischpult zu einem eigenständigen Musikinstrument und sollte globalen Einfluss auf Produktion und Rezeption elektronischer Musik ausüben.

Im Rahmen des Forschungsorientierten Lehren und Lernens möchten wir kritisch reflektiert ein solches Sound System von Grund auf gemeinsam herstellen. Das soll Ausgangslage dafür sein, in die komplexe und vielschichtige Materie einzutauchen, die sich um Sound Systems entwickelt (hat). Diese Materie umfasst mehrere schwierig voneinander trennbare Ebenen, die im Forschungsprojekt exploriert werden sollen.

1.: die physikalischen Eigenschaften von Klang, wie dessen Zusammensetzung, die Raumwirkung von Schall und Begebenheiten bei seiner Aufnahme und (verstärkten) Wiedergabe.

2.: technologisch-materielle Aspekte: die stetig wachsenden technischen Möglichkeiten, zusammen mit dem Erfindergeist und ästhetischen Vorstellungen handwerklich geschickter Kollektivmitglieder, beeinflussen nicht nur, wie Musik verstärkt - und inhärent: körperlich - wahrgenommen wird, sondern zeigen auch wesentliche Auswirkungen auf Dynamiken globaler musikalischer Transformationsprozesse.

3.: kulturelle Elemente spielen eine wichtige Rolle für das Verständnis des Phänomens Sound System: die Verbreitung von (musikalischen Elementen der) Dub-Musik über die Welt, hat beispielsweise zu einer bis heute aktiven, auf Sound Systems basierenden Dub-Szene in Deutschland geführt. Damit können Sound Systems und Dub als exemplarisch für Prozesse der kulturellen Globalisierung verstanden werden.

4.: Individuelle wie auch gemeinschaftliche Identitätskonstruktionen können beim gemeinsamen Hören von Musik zustande kommen. Dabei spielen körperliche und soziale Eindrücke eine Rolle, z.B. ein "Selbst" nur noch hintergründig wahrzunehmen und sich stattdessen als Teil einer Gruppe/des Ereignisses/einer Kultur zu fühlen. Über die Beschäftigung mit Sound Systems lassen sich solche soziokulturellen Potenziale bei Dub-Konzerten und Vergleichbarem erkunden.

5.: Zuletzt hat die globale Wanderung musikalischer Elemente des Dub auch zu der Entstehung neuer Genres beigetragen, wie dem im London der späten 1990er entstandenen Dubstep. Auch hier bietet die Materie Einsichten in Prozesse musikalischer Transformation.

Das Feld "Sound System" bietet musikwissenschaftlicher Forschung damit eine Vielzahl an Zugangsmöglichkeiten: stark miteinander verflochtene physikalische, soziale, musikalische und kulturelle Aspekte treffen hier aufeinander und beeinflussen einander gegenseitig.
Davon ausgehend, dass das "Selbermachen" in der Sound System-Kultur einen großen Stellenwert besitzt und ein solches praktisches Herangehen sehr spezifische Erfahrungen schafft, will dieses FoLL-Projekt folgender Frage nachgehen:

Was zeichnet das PHÄNOMEN Sound System hinsichtlich akustisch-musikalischer, soziokultureller und materieller Aspekte aus, und wie interagieren diese Ebenen?


Methodische Herangehensweise an das Forschungsprojekt

Um Antworten auf diese Forschungsfrage finden zu können, soll das Projekt aus mehreren aufeinander aufbauenden Arbeitsschritten bestehen. Dabei werden verschiedene Perspektiven auf den, wie gezeigt vielfältigen, Themenkomplex gesucht und seinen Teilbereichen gemäß, unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Methoden beforscht: In einem dreitägigen Workshop werden wir unter Anleitung eines Experten ein Sound System von Grund auf bauen. Im Göttinger Out-O-Space- Tonstudio in der Musa e.V. werden wir einen professionellen Einblick in die Rolle von Sound Systems für Musikproduktion erhalten. Darüber hinaus wird eine Veranstaltung des Kasseler Irie Ites Sound Systems besucht, audio-dokumentiert und musikwissenschaftlich analysiert. Über den Zeitraum des Forschungsprojekts hinweg werden die Teilnehmenden Sekundärliteratur zum Thema lesen, selbstgewählte Referatsthemen ausarbeiten und diese der Gruppe im Rahmen zweier Sitzungen präsentieren. Im Anschluss an das Projekt besteht die Möglichkeit, die Erfahrungen und das erarbeitete Wissen im Rahmen einer max. 18-seitigen Forschungsarbeit schriftlich auszuarbeiten und sich das FoLL-Projekt als Schlüsselqualifikation (SK.Mus.34) anrechnen zu lassen.

Der Sound System-Konstruktions-Workshop wird vom 22.-24. April stattfinden. Besagter Experte, der die Leitung übernehmen wird, ist Lars Kretschmer, der langjährige Erfahrungen in den Bereichen Konstruktion und Vermietung von Beschallungsanlagen und Musikelektronik, technischer Betreuung von Veranstaltungen, Tonaufnahmen im Studio und mobil sowie Solarsysteme für Licht- und Tonanlagen besitzt. Er war beteiligt bei der Organisation von Musik-Festivals und anderen Veranstaltungen, bei denen von ihm gebaute Sound Systems zum Einsatz kamen. Er ist Mitglied der deutschen Dub-Szene.

Im Laufe dieses Workshops entsteht ein Sound System. Dabei lernen wir, den Herstellungsprozess mit seinen Arbeitsschritten, der Materialauswahl und -verwendung kennen. Wie und warum werden Boxen konzipiert und gebaut, d.h. welche ästhetischen, technischen, kulturellen oder auch pragmatischen Entscheidungen werden beim Bau getroffen und worauf basieren sie? Wie kann man mit solarer Energie Verstärker frei von Steckdosen betreiben? Anhand solcher Fragen wird deutlich, wie sehr Menschen in den Sound System-Kollektiven sich mit gegenwärtig relevanten gesellschaftlichen Fragestellungen wie bspw. der nach nachhaltigem Umgang mit Energie auseinandersetzen.
Während des Workshops werden die Teilnehmenden Holzteile zu Chassis verkleben, Kabel und Frequenzweichen löten, Controller und Endstufen einsetzen. Der Boxenbau umfasst damit vor allem den physikalischen und ingenieurstechnischen Bereich der Materie, bietet aber gleichzeitig Einblicke in kulturelle und ästhetische Aspekte des Sound Systems.

Bei dem Besuch des seit 1989 existierenden Out-O-Space Tonstudios in der Musa e.V. lernen wir von Betreiber Tom Spötter u.a., analoge Produktionen von digitalen zu unterscheiden. Er kann mit seiner großen Erfahrung als Musikproduzent fachkundige Antworten auf Fragen der Teilnehmenden rund um die Arbeit im Tonstudio geben. Wie funktioniert ein Kondensator-Mikrophon und wie wird es bei Musikaufnahmen eingesetzt? Was kann ein Mischpult alles leisten und warum hat es wohl eine so zentrale Rolle im Dub eingenommen? Was ist ein Kompressor? An dieser Stelle soll es vor allem darum gehen, neben der Reproduktion von Klang jetzt auch seine Produktion, ein weiteres wesentliches Element der Sound System Kultur, in unsere musikwissenschaftliche Annäherung an das Thema zu integrieren.

Das Kasseler Irie Ites Sound System spielt zurzeit monatlich in der Göttinger Kneipe [?] (IPA: /d?ts/), betrieben vom Institut für angewandte Unterhaltung e.V. Bei einer dieser Veranstaltungen im Göttinger Börnerviertel werden wir ein Sound System-Kollektiv live erleben können. Aufbauend auf das zu diesem Zeitpunkt bereits erworbene Wissen über Sound Systems werden wir das Geschehen teilnehmend beobachten und audio-dokumentieren, musikalisch-strukturell hinhören und nach Möglichkeit sowie Absprache Interviews mit Szenemitgliedern sowie Gästen führen. Davon erhoffen wir uns, Forschungsmaterial zu sammeln von Leuten, die sich der Kultur zugehörig fühlen. Die Auswertung des gesammelten Materials wird (computer-unterstützte) Höranalysen, Transkriptionen der Interviews, und Erfahrungsberichte der FoLL-Team-Mitglieder umfassen. Wir legen Wert darauf, alle Sinne in unsere Methodenauswahl mit einzubeziehen, um so im Nachhinein das Material aussagekräftig interpretieren und wissenschaftlich adäquat aufbereiten zu können. Ein Sound System-Konzert ist ein vielschichtiges und komplexes Ereignis. Als solches lässt es sich am besten verstehen, indem zunächst seine verschiedenen interagierenden Facetten für sich genommen analysiert werden, mit genannten Methoden. Eine musikalisch-strukturelle Höranalyse hilft dabei, z.B. bestimmte wiederkehrende Muster und Auffälligkeiten in der Musik aufzudecken wie Bässe oder Manipulationen von Stimme. Erfahrungsberichte und dokumentierte Aussagen vor Ort können im Anschluss besser in den Gesamtzusammenhang gestellt werden. Das mitgeteilte Erleben, das "Sensational Knowledge" (Tomie Hahn) kann jetzt verglichen werden mit der Beschaffenheit der Musik. So können wir wissenschaftlich aussagekräftige Ergebnisse hinsichtlich unserer Forschungsfrage generieren und dabei der Komplexität eines solchen Konzertes gerecht werden.

Um den Kreis zu schließen, sollen an zwei Terminen alle Teilnehmenden mit Hilfe von Sekundärliteratur eigenständig vorbereitete Präsentationen halten und so das Wissen der Gruppe zu dem Thema verdichten. Die hierfür benötigte Kernliteratur, in Absprache mit Prof. Dr. Birgit Abels und Eva-Maria van-Straaten, M.A. zusammen- und zur Verfügung gestellt, wird im Rahmen der Einführungsveranstaltung zu Beginn des Forschungsprojektes gemeinsam besprochen. Hier werden auch die Präsentationsthemen diskutiert und verteilt. Die Präsentationen sollen möglichst multimedial und gestützt auf in der Szene gesammeltes Material gestaltet werden. Letzteres ist vor allem deshalb notwendig, da publizierte akademische Forschungen zu Sound Systems zwar existieren, die Reichweite des darin abgebildeten Forschungsstandes jedoch nicht bloß reproduziert, sondern nach Möglichkeit erweitert werden soll.

In den Präsentationen können weitere physikalische, kulturelle und soziale Aspekte genauer unter die Lupe genommen werden. Welchen Einfluss hatte Dub-Musik auf die Genese der Sound System Kultur? Welche Wege könnte das Phänomen zukünftig einschlagen? Welche Gestalten und Ausmaße können Sound Systems gegenwärtig annehmen? Welchen politischen Aufgaben und Ansprüchen sahen und sehen sich engagierte Szenemitglieder ausgesetzt?
Die Präsentation soll jeweilige Grundlage für die Forschungsarbeiten der Teilnehmenden darstellen, die innerhalb des Moduls SK.Mus.34 mit sechs Credit Points in das Bachelor-Studium eingebracht werden können.

An diesen Terminen soll außerdem Raum dafür geschaffen werden, das bis zu diesem Zeitpunkt gewonnene Wissen und persönliche Erfahrungen zu teilen, sie kritisch zu betrachten, und schlussendlich zu dokumentieren. Hier wird der Grundbaustein gelegt für die das Projekt beendende Plakaterstellung im Rahmen eines letzten gemeinsamen Treffens. Das Abschlusstreffen des Forschungs-Teams ist gleichzeitig als praktische Einweihung des gebauten Sound Systems gedacht.