Kunstwerk des Monats im November 2008


08. November 2008
"Untergehende Menschen" von Wilhelm Lehmbruck, 1914
Vorgestellt von: Prof. Dr. Werner Schnell

Wilhelm Lehmbruch: Untergehende MenschenWilhelm Lehmbruck (1881 - 1919) ist einer der großen hochgeschätzten Bildhauer der Klassischen Moderne. Kaum jemand, der sich nicht der >Knienden<, 1911, oder der >Großen Sinnenden<, 1913, oder des >Gestürzten<, 1915/16, erinnern könnte, während sein reiches graphisches Werk, das erst um 1910, also in der Pariser Zeit einsetzt, viel weniger bekannt ist. Die vollrunden Skulpturen sind ausschließlich Einzelfiguren, wenn er auch einige als Pendants konzipierte, so diejenigen, die er 1914 für die Werkbundausstellung in Köln modellierte. Die Figuren scheinen immer auf sich selbst bezogen zu sein. Aufgrund der Modellierung der Augenpartien ist sogar ihr Blick verhalten. Nie fühlt sich der Betrachter von ihm getroffen. Die Wertschätzung dieser Skulpturen rührt sicher nicht zuletzt daher, daß sie ungeachtet ihrer eigenwilligen Proportionierung doch vornehm zurückhaltend seelische Ausdruckswerte vermitteln, die viele bei rein konstruktiv gebauten Menschendarstellungen im 20. Jahrhundert vermissen. Die Einzelfigur erlaubt es Lehmbruck aber nicht, ein wesentliches Element menschlichen Lebens darzustellen, weder das Miteinander im Konflikt noch in Harmonie. Wie wichtig dem seelisch zerrissenen Lehmbruck aber gerade diese Thematik war, insbesondere der Geschlechterkonflikt, zeigen seine 182 Radierungen und 17 Lithographien, von denen die meisten mehrfigurig angelegt sind, auch das Blatt der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Lehmbruck nannte es >Untergehende Menschen<, 1914, (P. 126), 45 x 25,8cm, im ersten Plattenzustand, löschte aber in der vorliegenden Fassung diese Bezeichnung, ohne jedoch die Formen wesentlich zu verändern, somit auch nicht den Bildsinn, sofern er sprachlich erfassbar ist.

Mit wenigen reinen, in die Zinkplatte gezogenen Linien entwickelte Lehmbruck hier eine nicht leicht identifizierbare Gruppe von fünf Personen, deren Körper sich nicht klar von einander trennen, umso mehr aber untereinander eine Einheit bilden. Zugleich verbinden sie sich aber auch mit dem Bildgrund, aus dem sie auftauchen und in den sie wieder zurücksinken, da sich die Körperkonturen oft nicht schließen, zudem haben die Leiber keinen Bodenkontakt, Haltlosigkeit kennzeichnet sie. Man kann bei dieser 1914 wohl noch in Paris angefertigten, ganz aus der Linie entwickelten Radierung, die als Palimpsest einer Kreuzabnahme gedeutet werden kann, eine kubistische Bildanlage erkennen, obwohl die organoiden Formen daran zuerst gar nicht denken lassen.

Um das graphische Werk Lehmbrucks etwas besser überblickbar zu machen, werden zwei Blätter aus Privatbesitz zum Vergleich herangezogen. Eine Radierung aus dem Jahre 1918, für die Lehmbruck infolge eines Auftrags ein literarisches Thema wählte, nämlich >Lady Macbeth<, (P. 182). Lehmbruck führt hier in geradezu dramatischer Weise mit einem reichen Einsatz grafischer Mittel die Abgründe menschlicher Psyche vor, während die Lithographie >Frauenkopf nach links (Frau F.)<, 1916 (P. L15), in geradezu klassischer Klarheit ein Porträt der Gattin von Lehmbrucks bedeutendstem Sammler Sally Falk zeigt und als graphisches Spiegelbild der marmornen Porträtbüste Adeles Falks im Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg, aus demselben Jahr gelten darf. Mit diesen drei Blättern soll gezeigt werden, welche Bedeutung dem Bildhauer Wilhelm Lehmbruck auch als Graphiker zukommt, wobei auch die Besonderheiten im Umgang mit den graphischen Techniken und die Problematik der Edition von posthumen Drucken zur Sprache kommen.