Prof. Charles L. Briggs

Von Januar bis Juli 2013
Ph.D., Professor für Anthropologie, University of California, Berkeley, USA

Studium der Kulturanthropologie in Chicago


Forschungsvorhaben
Gegen-Narrative der Gewalt: Kindstötung und die Grenzen des Menschlichen

Ein Großteil der Forschungsarbeiten zu Narrativen und Gewalt geht davon aus, dass sich die Form der Erzählung zwangsläufig aus der Art der Gewalthandlung ableitet. Diese Annahme wird nicht nur von vielen Laien, sondern auch von Fachleuten aus dem Bereich der Medien, des Rechts und der Medizin geteilt. Scheinbar evozieren Gewalthandlungen notwendigerweise bestimmte Arten von Narrativen, deren Performanz und Einschreibung Gewaltereignisse repräsentiert und/oder bestimmte Typen von Effekten hervorbringt, wie etwa individuelle und kollektive Heilungsprozesse, die mit Wahrheits- und Versöhnungskommissionen
in Verbindung gebracht werden.
Dieses Projekt betrachtet diesen Prozess aus einem schwierigen Blickwinkel, bei dem Geschichten über Frauen – und gelegentlich Männer – im Vordergrund stehen, die wegen Kindstötung verurteilt wurden. In meiner archivalischen und ethnografischen Forschung, die ich größtenteils in Venezuela durchgeführt habe, habe ich diese Narrative in Redaktionsräumen, Polizeiwachen, Gerichtssälen, Wohnzimmern, Straßen und Gefängnissen verfolgt. Narrative über Kindstötungen, die große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, entwickeln sich zu Geschichten über Geschichten – nämlich Narrativen, die erklären, wie sich die Geschichte eines Verbrechens ganz natürlich und automatisch aus handfestem Beweismaterial und den Aussagen von Verwandten, Nachbarn, Ärzten, Ermittlern, Angeklagten und der ›Stimme des Volkes‹ ergeben hat. Diese Konstruktionen des Diskurses über die Gewalt schaffen ein sehr begrenztes Spektrum von Subjektpositionen.
Sie generieren standardisierte Drehbücher, die festlegen, wie Personen in ihrer jeweiligen Position befragt werden. Damit machen sie es schwierig, Gegen-Narrative ins Spiel zu bringen und tragen so dazu bei, die staatlichen Institutionen zu legitimieren. Ich habe mit Frauen zusammengearbeitet und sie im Gefängnis interviewt. Dabei wurden Gegen-Narrative entwickelt – keine alternativen Darlegungen »der Fakten«, sondern kritische und reflexive Erzählungen, die schildern, wie Narrative konstruiert werden, die neue Möglichkeiten eröffnen, sich wieder in einem menschlichen Rahmen zu begegnen.
In Göttingen werde ich mich auf ein Kapitel konzentrieren, das die Entwicklung des Diskurses über die Kindstötung und dessen Einschreibung in Balladen, Dramen, Romanen, Gedichten, Aufsätzen und Rechtstexten im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht.


Ausgewählte Publikationen

Briggs, C. 1986. Learning How to Ask: A Sociolinguistic Appraisal of the Role of the Interview in Social Science Research. Cambridge: Cambridge University Press.

Briggs, C. and C. Mantini-Briggs. 2003. Stories in the Time of Cholera: Racial Profiling during a Medical Nightmare. Berkeley: University of California Press.

Bauman, R. and C. Briggs. 2003. Voices of Modernity: Language Ideologies and the Politics of Inequality. Cambridge: Cambridge University Press.

Briggs, C. 2007. Mediating Infanticide: Theorizing Relations between Narratives and Violence. Cultural Anthropology 22(3): 315-356.

Briggs, C. 2008. Poéticas de vida en espacios de muerte: Género, poder y el estado en la cotidianeidad Warao. Quito: Editorial Abya-Yala.