Titel des Projekts:
Europäische Sozialpolitik zwischen Paris und Lissabon:
Institutionelle Entwicklung und demokratische Legitimität


Das Dissertationsprojekt untersucht die Sozialpolitik der Europäischen Union unter der Fragestellung, wie sich die vorhandenen Prozesse institutioneller Entwicklung auf die demokratische Legitimität der Entscheidungsfindung in diesem Politikfeld auswirken. Anlass zu dieser Fragestellung geben vor allem zwei Neuerungen: Zum einen wurde durch das Protokoll und Abkommen zur Sozialpolitik im Anhang des Maastrichter Vertrages (9./10. Dezember 1991) neben der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen der „Soziale Dialog“ institutionalisiert, durch den die europäischen Dachverbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften neben Anhörungsrechten die Möglichkeit erhalten, eigenständig Rahmenabkommen als Vorlage zur Verabschiedung europäischer Richtlinien auszuhandeln. Zum anderen wurde im Rahmen der seit 1997 bestehenden Europäischen Beschäftigungsstrategie, seit dem Lissabonner Gipfeltreffen (22./23. März 2000) aber auch im Rahmen der neuentwickelten „Offenen Methode der Koordinierung“ ein Prozess der gemeinsamen Zielformulierung, Indikatorbildung und gegenseitigen Berichterstattung etabliert, der mittlerweile auch auf die Bereiche der sozialen Inklusion und Rentenpolitik ausgeweitet worden ist. Insgesamt ist damit im Politikfeld „Beschäftigung und Soziales“ ein komplexes institutionelles Arrangement entstanden, in dem die Gesetzgebung durch Kommission, Rat und Parlament durch ein „quasi-korporatistisches“ Verhandlungssystem ergänzt, zugleich aber weitreichende Kompetenzen der nicht-verbindlichen Regelsetzung in den Austausch zwischen Kommission, Rat und Mitgliedsstaaten im Rahmen der Offenen Koordinierungsmethode verlagert werden. Die bisherigen Untersuchungen beschäftigen sich dabei im wesentlichen mit der Funktionsweise und den Ergebnissen einzelner Instrumente und Verfahren; eine Untersuchung, die das gesamte institutionelle Arrangement der EU-Sozialpolitik unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimität untersucht, steht jedoch noch aus. Der Bezug zum Rahmenthema des Kollegs besteht damit in der Analyse von aktuellen Prozessen der Rekonstruktion und Neuformulierung der mit dem Begriff des „Europäischen Sozialmodells“ verbundenen Inhalte, wie sie unter anderem in den Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens von Lissabon zum Ausdruck kommen. Zudem besteht ein enger Bezug zum DFG-Forschungsschwerpunkt „Regieren in Europa“, in dessen Rahmen auch ein besonderes Gewicht auf die demokratietheoretische Analyse europäischer Regierungsprozesse gelegt wird.

In bezug auf das Forschungsprogramm soll ausgehend von einem historisch institutionalistischen Untersuchungsrahmen die Entwicklung der europäischen Sozialpolitik in vier Stufen vom Ersten Sozialpolitischen Aktionsprogramm des Jahres 1974 bis zum aktuellen Zeitpunkt rekonstruiert und damit eine zeitliche Vergleichsperspektive zwischen den verschiedenen Stufen der Entwicklung eröffnet werden. Das demokratietheoretische Untersuchungsprogramm setzt an einem Modell von Christopher Lord und David Beetham an, die den Begriff der demokratischen Legitimität aus dem Zusammenspiel normativer Begründungsprozesse – in bezug auf die anerkennungswürdigen Quellen politischer Herrschaft und die Ziele und Standards des Regierens – mit analytisch bewertbaren Prozessen demokratischer Legitimation, der Entwicklung bürgerschaftlicher Rechte und der Performanz eines politischen Systems herleiten und auf die Europäische Union anwenden. Neben der Auswertung von Sekundäranalysen und einschlägigen Quellen (Dokumente der Kommission und anderer EU-Institutionen, Erklärungen und Positionspapiere der Sozialpartner und anderer Interessengruppen, Dokumentationen unabhängiger Einrichtungen, z.B. der Dublin Foundation oder des Observatoire Social Européen) sollen ergänzend eine Auswahl von Interviews und Expertengesprächen geführt werden.