Titel des Projekts:
Aktivierung oder Workfare: Ein Vergleich der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik in Großbritannien und Deutschland zwischen 1979 und 1999

In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die aktive und passive Arbeitslosenunterstützung innerhalb von Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik in zwei unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten unter ähnlichem Problemdruck entwickelt. Konkret soll dies anhand der Fälle Großbritannien und Deutschland untersucht werden. Dabei gilt es zu klären, ob die liberale britische Wohlfahrtsstaatstradition zu einer repressiveren Strategie bei der Reintegration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt als in Deutschland, das zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten gerechnet wird, geführt hat.

Verschiedene Studien zur Entwicklung der Arbeitslosenunterstützung in beiden Ländern kommen tatsächlich zu dem Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungspfade, genauer einer repressiveren Strategie in liberalen Wohlfahrtsstaaten. Allerdings ist der Fokus dieser Studien vor allem auf die klassische Arbeitsmarktpolitik gerichtet, während der Sozialhilfepolitik in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Analyse der Arbeitslosenunterstützung generell eher wenig Aufmerksamkeit zukommt. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland ist aber der Anteil der Menschen, die aufgrund von Arbeitslosigkeit Sozialhilfe beziehen, an der Gesamtzahl der Empfänger stetig gestiegen. Daher ist es notwendig, die beiden Systeme der Arbeitslosenunterstützung, also Arbeitsmarktpolitik (die hier in einer engen Begriffsdefinition Arbeitslosenversicherung, Arbeitsvermittlung und Arbeitsbeschaffung umfasst) und Sozialhilfepolitik, getrennt zu analysieren, nicht zuletzt weil die in beiden Ländern existierenden unterschiedlichen Traditionen auf beide Systeme spezifisch einwirken. Die erste forschungsleitende Annahme lautet, daß innerhalb der Arbeitslosenversicherung im Vereinigten Königreich tatsächlich stärker als in Deutschland auf negative Anreize, sprich eher eine repressive Strategie, zurückgegriffen wurde. Innerhalb des Systems der Sozialhilfe jedoch war dies nicht der Fall. Hier wurde in Deutschland in stärkerem Maße eine Strategie verfolgt, in der ein erhöhter Druck auf Arbeitslose zur Arbeitsmarktintegration eine gewichtige Rolle spielte. Das Interesse dieser Arbeit liegt jedoch nicht nur auf der Frage nach dem Ausmass des Drucks auf Arbeitslose sondern auch auf der Frage, wo dieser Druck hauptsächlich ausgeübt wird (in passiven oder aktiven Unterstützungssystemen). Daher ergeben sich vier mögliche Strategien, die wie folgt definiert werden: Deaktivierung (geringer Druck in passiven Systemen ebenso wie in aktiven), Aktivierung (passiv gering, aktiv hoch), Workfare (passiv hoch, aktiv gering) und Learnfare (passiv hoch, aktiv hoch).

In der Literatur werden diese Begriffe sehr unterschiedlich zur Beschreibung von Aspekten von Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik verwendet. Klare Definitionen sind selten zu finden. Daher erscheint es angebracht, die Begriffe als die oben definierten Idealtypen, die durch sechs Indikatoren beschrieben werden, zu verwenden. Die Indikatoren unterteilen sich in solche, die passive Leistungen, also die finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen, betreffen und solche, die sich auf Leistungen der sogenannten aktiven Arbeitsmarktpolitik, also die Beschäftigung von Arbeitslosen, beziehen. Im einzelnen setzt sich das Maß für die passive Unterstützung aus den Indikatoren Anspruchsvoraussetzungen, Bezugsdauer, Leistungshöhe zusammen. Die Qualität der aktiven Unterstützung wird anhand der Indikatoren Zumutbarkeitskriterien, Sozialleistungshöhe in Arbeitsverhältnissen und Qualität der Maßnahmen beurteilt.

Zum zweiten versucht diese Arbeit zu klären, warum es zu dieser Entwicklung innerhalb der beiden Unterstützungssysteme in beiden Ländern kam. Sie setzt bei der Feststellung an, dass in beiden Ländern ein ideologischer Wandel, eine Neuorientierung der Ideen, und zwar weg vom Keynesianismus hin zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, stattgefunden hat. Diese neue Politik, die Ausgabenkürzungen und einen verstärkten Druck auf Arbeitslose beinhaltete, wurde zunächst von den beiden konservativen Parteien vertreten, später aber auch von den Sozialdemokraten übernommen. Warum kommt es nun aber dennoch zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Umsetzung dieser neuen Politik? Zwar soll in dieser Arbeit keine monokausale Argumentation konstruiert werden, dennoch verkörpert die Idee, daß die verschiedenen Institutionen und Traditionen der Arbeitslosenunterstützung eine bedeutende Rolle für die Ergebnisse politischer Prozesse spielen, die zweite zentrale forschungsleitende Annahme dieser Arbeit. Es wird also argumentiert, daß Ideologien oder Ideen, die bestimmte ökonomische und finanzpolitische Zwänge formulieren, nicht direkt bestimmte politische Prozesse bewirken, sondern durch die institutionellen Arrangements blockiert, kanalisiert oder auch befördert werden und so den politischen Wandel prägen. Einmal etabliert haben diese Institutionen auch Auswirkungen auf die Formierung der Interessen der jeweiligen politischen Akteure, verfestigen somit ihre Existenz. Für die Fälle Deutschland und Großbritannien sind Unterschiede im politischen System, der institutionellen Legitimität der Unterstützungssysteme und die Zusammensetzung der Zielgruppen von Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik von besonderer Bedeutung.

Ein drittes und letztes Anliegen dieser Arbeit ist es schließlich zu zeigen, welche Folgen die Entwicklung der Arbeitslosenunterstützung für das "Europäische Sozialmodell" hat. Trotz differierender Ansichten darüber, was die konstituierenden Elemente dieses Sozialmodells sind, herrscht unter den meisten Autoren Einigkeit über ein grundlegendes europäisches Charakteristikum: den Anspruch der Bürger an den Staat, ein soziokulturelles Existenzminimum für alle zu garantieren, die Ungleichheit der Einkommen zu lindern und möglichst Beschäftigung für alle Erwerbsfähigen zu schaffen. Insofern liegt eine am Typus Aktivierung orientierte Arbeitslosenunterstützung im Kern eines Europäischen Sozialmodells. Wenn sich Aktivierung in beiden Ländern zumindest in einem der beiden Systeme der Arbeitslosenunterstützung auch aktuell noch finden läßt, muss ein zu pessimistisches Bild von der Erosion des Europäischen Sozialmodells zurückgewiesen werden. Deutlich wird das "Europäische" der Arbeitslosenunterstützung aber erst im Vergleich mit den Vereinigten Staaten. Daher wird in dieser Arbeit versucht diesen Vergleich anhand der oben angeführten Indikatoren für das Jahr 1999 durchzuführen und zu zeigen, daß sich Großbritannien und Deutschland, trotz der nicht unerheblichen Unterschiede zwischen beiden Ländern, näher stehen als Großbritannien und die Vereinigten Staaten, die im allgemeinen demselben Wohlfahrtsstaatsmodell zugeordnet werden. Dies überrascht vor allem vor dem Hintergrund des Ideologietransfers aus Amerika in Richtung Großbritannien. Möglicherweise hat die unter Blair vorangetriebene stärkere Verankerung Großbritannien in der europäischen Union, vor allem die positive Rolle Großbritanniens bei der Implementierung der EU Employment Guidelines 1998, zu einer Stärkung des "europäischen Elements" innerhalb der Arbeitslosenunterstützung beigetragen. Eine solche Interpretation, die den supranationalen Institutionen der Europäischen Union, trotz ihrer momentan eher symbolischen Rolle im Politikfeld Sozialpolitik, eine stabilisierende Funktion zuschreibt, läßt für das Europäische Sozialmodell hoffen.