Formierung "liberalen Islams" in Deutschland

Untersuchung zu 'liberal-islamischen' Vergemeinschaftungsprozessen und Autoritätsstrukturen am Beispiel des Liberal-islamischen Bundes e.V.

Projektverantwortlich: Dr. Mehmet T. Kalender
Laufzeit: ab 07/2022
Finanzierung: Eigenmittelprojekt
Affiliation: Georg-August-Universität Göttingen

Kurzbeschreibung des Projekts:
Mit dem jüngsten Wandel in der islamischen Organisationslandschaft in Deutschland geht auch die Neugründung von Vereinen einher, die sich im Unterschied zur Mehrheit der etablierten Verbandsstrukturen nicht ethnisch ausrichten und sich explizit mit einer 'progressiven' bzw. 'liberalen' Ausrichtung im islamischen Feld positionieren. Unter diesen Neugründungen sticht der 2010 gegründete Liberal-islamische Bund e.V. (kurz LIB) hervor, da dieser als einer der wenigen Vereine eigene 'liberal-islamische' Gemeinden ausbildet.
Als sich neu bildender islamischer Zweig unter 'liberalem' Vorzeichen ist der LIB ein spannendes Beispiel einer Religionsgemeinschaft 'im Werden', deren Konstituierungsprozesse Licht auf die Frage werfen, wie unter einem spezifischen Verständnis religiösen Liberalismus islamische Vergemeinschaftung gestaltet wird und welche Autoritätsstrukturen sich dabei ausbilden.
Die zwei Leitfragen des Projekts lauten entsprechend:
1) Wie gestaltet sich religiöse Vergemeinschaftung des LIB im Kontext religiösen Liberalismus? Und 2) welche religiös-liberalen Autoritätsstrukturen werden mit welcher Legitimationsstrategie etabliert? Beide Fragen zielen darauf ab, die im Rahmen des LIB produzierte islamische Variante eines religiösen Liberalismus zu konturieren.
In der Untersuchung werden drei Aspekte ins Zentrum gesetzt, um den genannten Fragen auf verschiedenen Ebenen nachgehen zu können. Das sind im Einzelnen die materiellen, diskursiven und virtuellen Praktiken des LIB:

  • Materielle Praktiken: Wie bei jeder sich neu etablierenden religiösen Gruppe sind auch die Mitglieder des LIB auf der Suche nach eigenen Räumen, um die religiöse Praxis auszugestalten. Dabei stellen sich Fragen der Verortung im lokalen Gefüge, aber auch des eigenen materiellen Ausdrucks. Der Blick auf materielle Praktiken fokussiert auf die Etablierung und Ausgestaltung eigener Räume (Wie sieht eine 'liberale' Moschee aus?) und religiöser Formen (Welche 'neuen' Wege religiöser Praxis werden etabliert, z.B. im Hinblick auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit?). Darüber hinaus interessieren hier die ästhetischen Formen der Selbstdarstellung, beispielsweise bildsprachliche Positionierungen.

  • Diskursive Praktiken: In zweierlei Hinsicht will sich der LIB laut Satzung diskursiv positionieren. Zum einen soll im öffentlichen (auch politischen) Diskurs mit und um den Islam die als bisher vernachlässigt verstandene 'liberale' Perspektive gestärkt werden. Damit einher gehen Fragen der Repräsentativität (Wer spricht für wen?) und der Verhältnisbestimmung zu anderen Playern im religiösen Feld (Wie positioniert sich der LIB zu den großen islamischen Verbänden sowie den Akteuren im 'liberalen' Spektrum?). Neben dem öffentlich-politischen Diskurs bildet der LIB zum anderen ein eigenes 'liberales' Islamverständis aus, das aus einer vereinseigenen theologischen Arbeit hervorgeht und sich beispielsweise in Positionspapieren niederschlägt. Hier interessieren besonders die Traditionskonstruktionen (Wer sind die Gewährsmenschen bzw. religiösen Bezugspunkte eines 'islamischen Liberalismus'?) und sich herausbildenden theologischen Brücken und Abgrenzungen (Wer sind die diskursiven Gegner und wer die Partner?).

  • Virtuelle Praktiken: Nicht nur aufgrund der Covid19-Pandemie hat sich eine starke virtuelle Tätigkeit des LIB entwickelt. Diese dient der organisatorischen Vernetzung der geografisch recht weit auseinanderliegenden Gemeinden (Berlin, Hamburg, Hannover, Frankfurt a. M., Köln, Stuttgart) und auch mit internationalen Partnerorganisationen (u.a. Kalam-Institut in Marseille, Unity Mosque in Toronto). Außerdem haben sich virtuelle religiöse Praktiken (gemeinsames Festgebet, Korangespräche, dhikr) entwickelt, die als Ebene virtueller Vergemeinschaftung zur Ausgestaltung des LIB als religiöser Gemeinde beiträgt. Nicht zuletzt spielen social media Aktivitäten (z.B. auf Instagram und Twitter) eine große Rolle für die Präsentation und Vernetzung des LIB und geben Aufschluss über Vergemeinschaftungsprozesse und Autoritätskonzepte.