Evolution des Flugapparates der Insekten (PD Dr. Thomas Hörnschemeyer)

Die Flugfähigkeit ist die wesentliche Grundlage für den evolutiven Erfolg der Insekten. Dennoch ist bis heute unklar, wie die Anfänge des Insektenflugs ausgesehen haben. Besonders über den ursprünglichen Aufbau des Flügelgelenks, das eine in jeder Hinsicht zentrale Stelle im Flugapparat einnimmt, ist sehr wenig bekannt. Es handelt sich dabei um ein hoch komplexes System aus mehreren Skleriten, die in ihrem mechanischen Zusammenspiel dafür sorgen, dass die Bewegungen der Muskulatur auf den Flügel übertragen werden. Dazu gehören neben dem Auf- und Abschlag auch Steuerbewegungen und das Zusammenlegen oder Falten der Flügel.
Der Fossilbericht ist zur Klärung der Evolution des Flugapparates wenig hilfreich, da die ältesten bekannten Fossilien geflügelter Insekten (Pterygota) bereits über einen hochentwickelten, voll ausgebildeten Flugapparat mit großen Flügeln und komplexer Flügeladerung verfügen. Die Fossilerhaltung bei diesen Exemplaren ist zudem nicht ausreichend, um wichtige morphologische Details im Übergangsbereich zwischen Thorax und Flügel, in dem das Flügelgelenk liegt, eindeutig zu rekonstruieren. Diese Situation hat dazu geführt, dass recht unterschiedliche Theorien über die morphologische Herkunft der Flügel und die ursprüngliche Ausgestaltung ihrer Gelenkung diskutiert werden.

0.0.1 Herkunft der Flügel

Von Kukalová-Peck (1978, 1983) wird die These vertreten, dass die Flügel aus Exiten der ursprüng­lichen Arthropodenextremität hervorgegangen sind. Wesentliche Grundlage für diese Annahme sind umfangreiche Untersuchungen an fossilen Insekten sowie der Vergleich mit late­ralen Anhängen am Thorax und am Abdomen wasserlebender Larven der Ephemeroptera und der Plecoptera (Bekker 1954, Bocharova-Messner 1965, 1968).
Im Gegensatz zu Kukalová-Peck (1983) und Haas & Kukalová-Peck (2001) sehen viele andere Autoren (z.B. Snodgrass 1935, Matsuda 1970, 1981, Hamilton 1971) die Insektenflügel als laterale Abfaltungen der thorakalen Terga bzw. des Grenzbereichs Tergum-Pleura an. Basis für diese Hypothese sind Untersuchungen an rezenten Organismen. Aufgrund der Lagebeziehungen der Flügel und der Flügelknospen der Larven zu den anderen Elementen des Thorax (Pleura, Stigmen) erscheint es als unwahrscheinlich, dass die Flügel auf Teile der Laufextremitäten zurückgehen (Matsuda 1970, 1981, Hamilton 1971). Auch die ontogenetische Entwicklung (Bocharova-Messner 1968, Matsuda 1981, Hamilton 1971) deutet darauf hin, dass die Insek­tenflügel als häutige Auslappungen des Grenzbereichs Tergum-Pleura entstanden sind.

0.0.2 Grundmuster des Flügelgelenks

Genau wie zur Herkunft der Flügel gibt es auch zum Aufbau des Flügelgelenks im Grundmuster der Insekten zwei widersprüchliche Ansichten.
Die von Kukalová-Peck (1983) und Haas & Kukalová-Peck (2001) vertretene Hypothese über das Grundmuster des Flügelgelenks der Pterygota beruht zu großen Teilen auf der Untersuchung von paläozoischen Fossilien der Diaphanopterodea und Palaeodictyoptera. Nach Kukalová-Peck (1983) setzt sich das Flügelgelenk der Pterygota ursprünglich aus 32 einzelnen Skleriten zusam­men. Aus diesen 32 Elementen seien im Laufe der Evolution durch Verschmelzungen die drei Axillare und maximal acht weitere Sklerite entstanden, die bei den heutigen Neoptera vorhanden sind. Die Rekonstruktion der Flügelbasis aufgrund von Fossilien ist jedoch in vielerlei Hinsicht problematisch; so ist das Flü­gelgelenk wegen seiner Lage dicht am Insektenkörper meist nur schwer am Fossil interpretierbar und es können sehr leicht Bruchlinien o.ä. als Skleritgrenzen fehlinterpretiert. Außerdem handelt es sich bei den untersuchten Fossilien um sehr große Tiere, so dass ihre Flügelbasen möglicherweise einen stark abgeleiteten Zustand reprä­sentieren.

Um dem Ursprung der Insektenflügel möglichst nahe zu kommen, bietet es sich an, rezente Ephemeroptera genau zu untersuchen. Eintagsfliegen befinden sich unter den ältesten fossil nachgewiesenen geflügelten Insekten (Carpenter 1992) und stehen wahrscheinlich an der Basis des Systems der geflügelten Insekten (Kristensen 1991, Staniczek 2000). Außerdem zeigen Vergleiche rezenter und fossiler Ephemeroptera, dass sich die Morphologie dieser Tiere sehr wenig verändert hat (Willmann 1999). Dies gilt für viele Bereiche des Körpers und man kann annehmen, dass auch der Flugapparat der rezenten Ephemeroptera dem der ältesten Formen noch sehr ähnlich ist. Entsprechendes gilt für die Plecoptera als morphologisch urprüngliche Vertreter der Neoptera.

Daher postulieren manche Autoren (Snodgrass 1909, 1927, 1935, Matsuda 1970, 1981, Rasnitsyn 1981) für das Grundmuster der Pterygota eine Ausbildung, wie sie bei rezenten Ephemeroptera beobachtet werden kann. Die daraus resultierende Hypothese beruht jedoch auf Untersuchungen einzelner, oft hoch abgeleiteter Arten (Grandi 1947, Brodskiy 1970, Matsuda 1956, Bekker 1954). Studien der Flügelbasis bei Arten, die als besonders ursprünglich angesehen werden, fehlen.

Für die Plecoptera ist die Situation ähnlich. Onesto (1965) und Brodskiy (1979 a,b, 1986) haben Aufbau und Funktion des Flügelgelenks für einzelne Arten untersucht. Eine Übersicht über die Verhältnisse in den verschiedenen Teilgruppen der Plecoptera und die mögliche Evolution der Flügelgelenkstrukturen innerhalb der Plecoptera fehlt aber.
Das Flügelgelenksystem der im Stammbaum ebenfalls basal stehenden Odonata wurde von Tannert (1958), Hatch (1966) und Pfau (1986, 1991) ausführlich beschrieben. Der Flugapparat der Odonata ist stark spezialisiert und kann daher zur Rekonstruktion des Grundmusters der Pterygota nur wenig beitragen.

0.0.3 Flugmuskulatur und Ontogenie

Ausführliche Darstellungen zur Thoraxmuskulatur bei Ephemeroptera und Plecoptera sowie bei den hier als Außengruppe betrachteten ungeflügelten Insekten finden sich bei Barlet (1953, 1967), Matsuda (1970), Brodskiy (1994) und Hamilton (1971, 1972). Da die Untersuchungen innerer Strukturen aber sehr aufwändig sind, beschränkt sich die Kenntnis auch hier auf wenige Arten. Eine Erweiterung des Wissensstandes durch Untersuchung zusätzlicher Arten ist wünschenswert.
Untersuchungen zur ontogenetischen Entwicklung des Flugapparates existieren ebenfalls nur für sehr wenige Arten. Von Bacharova-Messner (1959, 1965, 1968) wurde die Ontogenese bei Arten der Odonata und der Ephemeroptera untersucht, Holdsworth (1940) studierte die Entwicklung bei einer Art der Plecoptera. Da aus der Embryonalentwicklung Informationen über die morphologische Herkunft einzelner Strukturen zu gewinnen sind, ist es wichtig, die gewonnenen Erkenntnisse durch Untersuchungen bei weiteren Arten zu überprüfen und zu ergänzen.