In publica commoda

Dr. Wilhelm Krull, Vorsitzender des Stiftungsrates der Georg-August-Universität

Verehrter Herr Ministerpräsident,
lieber Herr Kern,
lieber Herr Lüer,
lieber Herr von Figura,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

in einer Zeit, in der das Innovationsfieber grassiert, sich die Neuerungen geradezu überstürzen und in nahezu allen Lebensbereichen das Tempo der Veränderung rasant zuzunehmen scheint, in der das Noch-Nicht so eindeutig über das Immer-Noch oder Immer-Wieder triumphiert, mag manchem von Ihnen das Festhalten am Althergebrachten, die Fortführung einer Tradition oder auch ein nachdenkliches Innehalten schon wie ein seltsam anachronistisches Verhalten erscheinen. Jedenfalls gehört Mut dazu, in einer so turbulenten Zeit der Reflexion über das Erreichte und der Würdigung des Vergangenen ebenso Raum zu geben wie dem Blick in eine ungewisse Zukunft. Deshalb möchte ich zuallererst der Universitätsleitung dazu gratulieren, dass sie sich entschlossen hat, an der guten, alten Tradition einer Akademischen Feier aus Anlass der Übergabe des Präsidentenamtes der Georg-August-Universität Göttingen festzuhalten und uns dazu in dieser ehrwürdigen Aula zu versammeln.

Angesichts der vielen Veränderungen – allen voran die Umwandlung der Georgia Augusta in eine Stiftungsuniversität, die wir fast auf den Tag genau vor zwei Jahren in diesem Raum feiern konnten, aber auch der zahlreichen strukturellen und inhaltlichen Reformschritte - , die in Ihre Präsidentschaft gefallen sind, lieber Herr Kern, freut es mich ganz besonders, dass bei Ihrem Abschied noch einmal verdeutlicht werden kann, wie klug Sie stets die Balance zu halten verstanden zwischen einer immer wieder neu zu stimulierenden Innovationskultur und einer ebenso notwendigen Kontinuitätskultur Ihrer Universität. Dafür steht geradezu paradigmatisch der Wechsel im Amt des Präsidenten von Herrn Kern zu Ihnen, lieber Herr von Figura; denn Sie haben sich bereits als Mitglied des Senats maßgeblich für den neuen Weg hin zur Stiftungsuniversität engagiert und können nun das Werk Ihres Vorgängers ganz im Sinne der von ihm propagierten „rückgekoppelten Autonomie“ fortsetzen.

Im Namen des Stiftungsrates danke ich Ihnen, lieber Herr Kern, für die stets erfreuliche und zugleich sehr erfolgreiche Zusammenarbeit. Ihnen, lieber Herr von Figura, wünsche ich für die Wahrnehmung Ihrer verantwortungsvollen Aufgabe – vor allem bei Ihren Entscheidungen - stets eine glückliche Hand, getreu dem Leitsatz des Thukydides (ca. 460 – 400 v. Chr.): „Der Preis des Glückes ist die Freiheit, der Preis der Freiheit ist der Mut.“ (II 43,4)

I. Das erweiterte Europa und der europäische Forschungsraum

Zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehört für jeden Hochschulpräsidenten die Positionierung seiner Institution im europäischen Hochschul- und Forschungsraum. „Europa“ wird zu einem zunehmend wichtigeren Bezugspunkt wissenschaftspolitischen Denkens und Handelns. Dabei ist Europa weder ein geographisch noch ein politisch klar abgrenzbarer Raum. Der französische Soziologe Edgar Morin fomulierte schon vor einigen Jahren in skeptischer Perspektive, Europa sei ein Komplex im Sinne des lateinischen Wortes Komplexus, also „das, was miteinander verwebt wurde“ und folglich zu zerfallen drohe, sobald man ihm eine Einheit verordnen wolle anstatt es als „unitas multiplex“ – also als Einheit in der Vielfalt ebenso wie als Vielfalt in der Einheit – bestehen zu lassen. Der deutsche Soziologe Rudolf Stichweh hält gar jeden Versuch, einen soziologisch gehaltvollen Europabegriff zu entwickeln, angesichts einer funktional differenzierten Weltgesellschaft für aussichtslos (vgl. Rudolf Stichweh: Die Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 10).

Nun hätte es durchaus seinen intellektuellen Reiz, die Debatten der letzten Jahre über mehr oder weniger feinsinnige Unterscheidungen zwischen einem „alten“ und einem „neuen“ Europa, über die Forderung von Jacques Derrida und Jürgen Habermas, die Frage nach der Identität Europas vor allem von einem „Kerneuropa“ ausgehend positiv zu beantworten: „Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muss die Lokomotive sein“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Mai 2003), das Spannungsverhältnis zwischen einer Vertiefung und einer Erweiterung der Europäischen Union oder gar die Gefahren eines „imperial overstretch“ (Paul Kennedy) näher zu beleuchten. Ich möchte dem jedoch nicht weiter nachgehen, sondern mich pragmatisch auf die hochschul- und forschungspolitischen Aspekte konzentrieren. – Und die haben es durchaus in sich!

Neben der Bologna-Erklärung von 1999 mit ihren weit reichenden Folgen für eine europaweite Neustrukturierung des Studienverlaufs (Modularisierung, Leistungspunktesystem) und der Studienabschlüsse (Bachelor, Master) sind hier in erster Linie die Ministerratsbeschlüsse vom Frühjahr 2000 in Lissabon sowie ein Jahr später in Barcelona zu nennen. Innerhalb von zehn Jahren, so das in Lissabon formulierte Ziel, soll Europa nicht nur zu einem einheitlichen Forschungsraum, sondern auch zum kompetitivsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Ebenfalls bis 2010, so lautete 2001 der Beschluss von Barcelona, sollen die Investitionen in Forschung und Entwicklung von 2 % des Bruttoinlandsprodukts auf 3 % gesteigert werden.

Anfang des Jahres 2005 könnten wir uns vordergründig betrachtet zwar damit beruhigen, dass bis 2010 noch gut fünf Jahre Zeit seien und bei hoffentlich positiver Wirtschaftsentwicklung am Ende alles noch ins Lot kommen könnte. Doch wer so denkt, der verkennt die für erfolgreiche Investitionen in Forschung und Entwicklung – zumal sie zu zwei Dritteln im privaten Sektor erfolgen sollen! – unerlässliche Vorbereitungszeit, den langen Atem, den man braucht, um aus hervorragend ausgebildeten Studierenden von heute die kreativen Forscherinnen und Forscher sowie die Führungskräfte von morgen zu rekrutieren.

Eine Expertenkommission unter dem Vorsitz des ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten Wim Kok hat im November 2004 ihren Bericht „Facing the Challenge. The Lisbon strategy for growth and employment“ vorgelegt, in dem sie zwar feststellt, dass die in Lissabon beschlossene Strategie nach wie vor ihre Gültigkeit besitze, die Umsetzung aber in nahezu allen Bereichen deutlich zu wünschen übrig lasse. Ein Zitat aus der Zusammenfassung mag an dieser Stelle genügen, um die von der Kok-Kommission eingeforderte Dringlichkeit politischen Handelns zu unterstreichen: „To achieve the goals of higher growth and increased employment in order to sustain Europe’s social model, will require powerful, committed and convincing political leadership. Member States and the European Commission must re-double their efforts to make change happen.“ (S. 4)

Mindestens ebenso groß wie die naturwissenschaftlich-technischen und ökonomischen Herausforderungen sind im Hinblick auf das Zusammenwachsen des erweiterten Europas die geisteswissenschaftlich-kulturellen Aufgaben, deren Bearbeitung bislang kaum von der EU, sondern vor allem von privaten Stiftungen gefördert wird. Zwar freuen wir uns alle, dass seit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs die – freilich schon zur Zeit Karls des Großen um 800 und erneut ab etwa 1500 – Europa in zwei Hälften teilende Elbe-Leitha-Grenze für unser wirtschaftliches und politisches Handeln keine Gültigkeit mehr hat. Aber in aktuellen Auseinandersetzungen – etwa um die Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ – können wir hautnah miterleben, wie alte Wunden erneut aufreißen und längst zugeschüttet geglaubte Gräben wieder entstehen. Die vom Willen zur Verständigung charakterisierte Gegenwart kann die Last einer oft schwierigen Vergangenheit nicht einfach abschütteln, sondern es gilt anzuerkennen, dass die Vergangenheit sich immer wieder Geltung verschafft und in vielfältiger Weise in die Gegenwart hineinwirkt. Hier – wie auch in anderen Fällen – hilft insbesondere vorbeugendes Nachdenken.

Geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Forschung kann die vielfältigen Konflikte nicht lösen. Aber sie kann einen Beitrag leisten zu ihrer Lösung, indem sie die zu Grunde liegenden Ereignisse und Probleme zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Untersuchung macht und sie zugleich als Teil unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit und Gegenwart begreifen hilft. Dies erfordert jedoch eine neue Sichtweise, ja einen prinzipiellen Perspektivwechsel. Wer nach Gemeinsamem und Trennendem in Europa fragen will, wer Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Ländern und Kulturen erkennen sowie Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen ihnen offen legen will, kann dies nicht allein aus einem nationalen Blickwinkel tun. Übergreifende europäische Perspektiven erfordern vielmehr transnationale Zugriffe und den Mut, die eigenen „intellektuellen Kontinentalsperren“ (Wolf Lepenies) zu erkennen und sie in einem gemeinsamen Lernprozess zu überwinden. Dabei handelt es sich zweifellos um eine Herkulesaufgabe, die nur durch bereitwilliges Aufeinanderzubewegen zu bewältigen sein wird. Andrei Pleþu, der ehemalige rumänische Kultur- (1989-1991) und Außenminister (1997-1999) und seit geraumer Zeit wieder Rektor des New Europe College Bukarest hat dies in einem Vortrag so formuliert: „Ideal wäre es, eine gute Proportionalität zwischen den Anforderungen der Kompatibilisierung von Ost und West, den lokalen Bedürfnissen bzw. Dringlichkeiten, aber auch den tieferen Erwartungen der Forscher im Osten zu finden.“ (Hildesheim 2002, S. 122) Von diesem Idealzustand sind wir leider noch ein erhebliches Stück entfernt.

II. Zur wissenschaftlichen und technologischen Leistungsfähigkeit Europas

Trotz der von mir angesprochenen Mängel und Probleme besteht aber kein Grund, die Köpfe hängen zu lassen. Dazu möchte ich Ihnen – vor allem zu den Natur- und Technikwissenschaften - nur einige wenige Zahlen und Fakten aus verschiedenen Leistungsvergleichen (neudeutsch: Benchmarkings) vor Augen führen, die zwar nicht ausreichen werden, den vielstimmigen und durchaus lautstarken Chor der pessimistisch gestimmten Kritiker EU-Europas zum Schweigen zu bringen, die aber doch geeignet sein dürften, einige Dinge zurechtzurücken.

Betrachten wir beispielsweise den Human Development Index, der insbesondere Bildungs-, Umwelt- und Gesundheitsaspekte von Lebensqualität berücksichtigt, dann liegt Europa mit 0,92 klar an der Spitze (gefolgt von Nordamerika mit 0,82). Auch im Bereich der wissenschaftlichen Publikationen können wir feststellen, dass bereits 1995 die seinerzeit noch 15 Mitgliedsstaaten zählende EU mit 206 219 im Science Citation Index erfassten Veröffentlichungen die USA mit 193 885 registrierten Arbeiten im Gesamtaufkommen an wissenschaftlichen Publikationen überholt hat. Ferner liegen gleich mehrere europäische Länder, allen voran die nordeuropäischen Staaten, aber auch die Niederlande und die Schweiz bei einer Reihe von Produktivitätsindikatoren (Publikationen pro 1 Mio Einwohner, pro 1000 Wissenschaftler und auch bei der Zahl der Zitationen pro Publikation) deutlich vor den USA. Angesichts der großen Streubreite innerhalb der EU – Deutschland befindet sich bei den meisten Indikatoren leider nur im oberen Mittelfeld – verwundert es freilich nicht, dass die USA in nahezu allen Bereichen (eindeutig) vor den EU-15 platziert sind. Dies gilt insbesondere für ein Ranking nach viel zitierten Veröffentlichungen und auch – wenngleich nur knapp – im Feld der triadischen (d.h. in Europa, den USA und in Japan gleichermaßen angemeldeten) Patente. Hier haben die USA einen Anteil von 34,8 % gegenüber den EU-15 von 32,2 % und Japan mit 26,8 %. Deutschland, das offenbar immer noch seinem Ruf als Tüftler- und Erfinderland gerecht wird, liegt mit einem weltweiten Anteil von 13,3% solcher Patente innerhalb der EU klar an der Spitze.

Bei aller Vorsicht, die im Umgang mit solchen Rankings und Statistiken geboten ist, lässt sich festhalten, dass die EU-15 insgesamt nicht schlecht platziert sind. Unverkennbare Schwächen zeigen sich jedoch im Bereich der fundamentalen Durchbrüche (u.a. reflektiert in der geringen Zahl europäischer Nobelpreisträger/-innen und vergleichbarer Auszeichnungen) und in der Tatsache, dass nach Einschätzung von Experten derzeit mindestens zwei Drittel aller wissenschaftlich fundierten Innovationen aus den USA kommen. Hier gilt es anzusetzen, wenn wir in Europa tatsächlich das Ziel erreichen wollen, dereinst zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Dazu ist es erforderlich, europaweite Wettbewerbsarenen und institutionelle Voraussetzungen für die besten Forscherinnen und Forscher zu schaffen, die frei von bürokratischen Hürden und Hemmnissen in neuer Weise den Mut zum Risiko fördern und Europa als Forschungsraum für die besten Köpfe wieder
attraktiv machen.

III. Neue Herausforderungen im europäischen Forschungsraum

Eine so eindeutig auf die Förderung von Spitzenforschung ausgerichtete Wettbewerbsstruktur, wie sie derzeit vor allem mit Blick auf das 7. Rahmenprogramm und einen neu zu errichtenden European Research Council (ERC) diskutiert wird, ist zwar meines Erachtens unerlässlich (vgl. nature vol. 419, 19. September 2002, S. 249-250) für die langfristige Sicherung der wissenschaftlichen und technologischen Leistungsfähigkeit Europas, selbstverständlich akzeptiert ist sie damit jedoch noch lange nicht. Gottfried Schatz, der ehemalige Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates, hat erst kürzlich die in Europa immer noch vorherrschende „Angst vor Exzellenz“ (Neue Zürcher Zeitung vom 18. September 2004) beklagt. Weiter heißt es bei Schatz: „Europa scheut immer wieder davor zurück, gezielt die Besten zu fördern, besonders wenn dadurch das Mittelmaß weniger oder gar nichts erhalten sollte. Dies gilt auch für viele europäische Schulen und Universitäten. Diese scheinen nicht erkennen zu wollen, dass wir die meisten neuen Ideen besonderen Talenten verdanken und wir diese Talente weder planen noch schaffen können. Wir können sie aber sehr wohl hemmen oder zerstören, denn Talente sind hoch verletzlich.“ (ebd.)

Jede einzelne Institution, ob nun Universität oder außeruniversitäre Forschungseinrichtung, wird sich – jedenfalls dann, wenn sie auch künftig in der Champions League akademischer, europäischer Institutionen mitspielen will – auf diesen Wettbewerb um die talentiertesten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur einstellen, sondern aktiv gestaltend vorbereiten müssen. Dazu gehört ein attraktives, international ausgerichtetes Studienangebot – vor allem im Graduate- und Postgraduatebereich – ebenso wie die Eröffnung neuer, frühe Selbstständigkeit ermöglichender und im Erfolgsfall verlässlicher Karrierewege („tenure track“). Nur in einem solchen, die Kreativität voll zur Entfaltung bringenden Umfeld werden sich die begabtesten Forscherinnen und Forscher so wohl fühlen, dass sie sich auch langfristig an „ihre“ Institution zu binden bereit sind.

IV. Die Stiftungsuniversität Göttingen im europäischen und globalen Wettbewerb

Wie steht es nun um die Georg-August-Universität und ihre Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich? – Nun zunächst einmal ist festzuhalten, dass sie nicht nur für in- und ausländische Studierende nach wie vor attraktiv ist, sondern auch in der Forschung international hohes Ansehen genießt. In den leider auch qualitativ sehr verschiedenen Rankings weist sie ebenfalls zumeist vordere Plätze auf. So belegt sie z.B. in dem viel beachteten „Shanghai Ranking“ der Jiao Tong Universität nicht nur einen der wenigen deutschen Plätze unter den TOP 100 der Welt, sondern auch einen Platz unter den ersten 25 Europas und immerhin den viertbesten Platz aller deutschen Hochschulen .Zwar hinter den beiden Münchner Universitäten und der Universität Heidelberg, aber noch vor der Universität Freiburg, der Berliner Humboldt-Universität und der Universität Bonn, also Hochschulen, die sich selbst ansonsten gerne vor der Göttinger Universität platziert sehen.

Zusätzlich an Attraktivität gewonnen hat die Georgia Augusta, die im übrigen auch Mitglied der so genannten Coimbra Group europäischer Spitzenuniversitäten ist, in den letzten Jahren – und das ist nicht zuletzt Ihr Verdienst, lieber Herr Kern; denn Sie haben die Öffnung zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, allen voran den Max-Planck-Instituten, bewusst vorangetrieben – durch die Einrichtung des maßgeblich von dem Nobelpreisträger Erwin Neher initiierten European Neuroscience Institute (ENI), gleich mehrerer Max Planck Research Schools und weiterer Graduate Schools, an denen sich namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus außeruniversitären Forschungseinrichtungen beteiligen. Etliche von ihnen sind mit „Exzellenz-Programmen“ verknüpft, in denen, wie z.B. in der Physik, den begabtesten Masterstudierenden bereits nach zwei Semestern ein Wechsel in das Ph.D.-Programm ermöglicht wird. Der damit eingeschlagene Weg sollte in den kommenden Jahren konsequent fortgesetzt werden. Und ich bin sicher, lieber Herr von Figura, dass wir dazu später in Ihrem Vortrag noch einiges hören werden.

Im Großen und Ganzen gilt also auch heute noch die Feststellung Napoleons aus dem Jahre 1807, die offenbar seinerzeit die Georg-August-Universität davor bewahrte, ein ähnliches Schicksal – nämlich der Schließung und Zerschlagung – zu erleiden wie so viele andere deutsche Hochschulen unter seiner Herrschaft: „Die Universität Göttingen gehört keinem besondere Staate, gehört nicht Deutschland allein, sie gehört dem gesamten Europa an.“ – Die Georgia Augusta gehört auch heute keinem besonderen Staate. Wohl aber steht sie in ihrer neuen Rechtsform als autonome Stiftungsuniversität weiterhin „in staatlicher Verantwortung“ (§1 Abs. 1 NHG). Daher appelliere ich insbesondere an Sie, Herr Ministerpräsident, der Georg-August-Universität auch in den kommenden Jahren den notwendigen Freiraum, vor allem aber die erforderlichen finanziellen Ressourcen in verlässlicher Weise zur Verfügung zu stellen, damit die Universität in dem sich verschärfenden europäischen und globalen Wettbewerb weiterhin bestehen kann.

Landesregierung und Universitätsleitung müssen gemeinsam vor Ort die Voraussetzungen schaffen, um zur Spitze vorstoßen und sich dort behaupten zu können. Wie uns insbesondere einige kleinere EU-Mitgliedsstaaten, die von ihrer Einwohnerzahl her zumeist bei weitem nicht an Niedersachsen heranreichen, zeigen, ist es durch gezielte Förderung von Spitzenleistungen sehr wohl möglich, in einzelnen Bereichen vordere Plätze einzunehmen. Dies gilt für die nordeuropäischen Länder und die niederländischen Universitäten ebenso wie in jüngster Zeit für das stark aufstrebende Irland mit seiner ausschließlich an „world class research“ orientierten Förderung der Science Foundation Ireland. Von diesen Erfolgsbeispielen sollten wir lernen. Vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, auch das Niedersächsische Vorab der VolkswagenStiftung in diesem Sinne noch konsequenter als bisher für die Spitzenforschung in Niedersachsen zu nutzen?

V. Ein Ausblick mit Lichtenberg und Faraday

Statt, wie Sie es vielleicht schon von mir kennen, mit einem Lichtenberg-Zitat zu schließen, möchte ich Ihnen von einer physikalischen Entdeckung Georg Christoph Lichtenbergs erzählen, die dieser am 21. Februar 1778 vor der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen erläuterte. Mit einem neuen Elektrophor stellte Lichtenberg damals „verschiedene Versuche an, um die wunderbaren Eigenschaften der Elektrizität zu erforschen. Und nun spielte der Zufall mit: Beim Glätten des Harzkuchens, der an dem neuen größeren Elektrophor fast zwei Meter Durchmesser hatte, entstand viel feiner Staub, der sich überall im Zimmer auf alle Gegenstände legte – sehr zum Verdruss Lichtenbergs. Als der Metallteller, der gewöhnlich auf dem Harzkuchen auflag, einmal für längere Zeit hochgezogen geblieben war, beobachtete er, dass sich der auf dem elektrisch geladenen Harzkuchen abgelagerte Staub zu feingliedrigen Figuren geordnet hatte. Je nach positiver oder negativer Ladung der Harzplatte bildeten sich konzentrische Kreise oder strahlende Sonnen aus. Dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung ‚Lichtenbergsche Figuren’ in die Geschichte der Physik eingegangen, und auch die Nomenklatur elektrischer Spannung nach Plus und Minus geht auf Lichtenberg zurück.“ (Dieter Kliche: Lichtenbergsche Figuren: Physik und Ästhetik. In: Trajekte Nr. 6, April 2003, S. 35)

Fast 50 Jahre später – auch damals gab es schon so etwas wie einen europaweiten Wissenstransfer – machte der englische Physiker und Chemiker Michael Faraday eine Reihe weiterer Entdeckungen – u.a. die Induktion und die Elektrolyse – auf dem Weg zu unserer heute gewohnt komfortablen Stromversorgung. Als er eine seiner Arbeiten dem englischen Premierminister Gladstone erläuterte, fragte ihn dieser, wozu seine Entdeckung denn wohl nützlich sein könnte. „I don’t know Sir“, antwortete Faraday, „but I am sure that one day you will tax it.“

Unser Stiftungsratsmitglied Professor Dr. Utz Claassen, den ich herzlich begrüße, könnte uns als EnBW-Vorstandsvorsitzender sicherlich sofort sagen, wie hoch heutzutage das jährliche Steueraufkommen allein aus dem Bereich der Energieversorgung ist. Auch dürfte es der Wunsch eines jeden Regierungschefs sein, dass die Hochschulen möglichst rasch in Dienstleistungen oder Produkte umsetzbares Wissen generieren. Aber solches Wünschen greift zumeist zu kurz. Zu verschlungen sind die Wege, auf denen sich fundamental neue Erkenntnisse ihre Bahn brechen. Oft – das ließe sich auch am Beispiel eines anderen berühmten Göttinger Wissenschaftlers zeigen -, nämlich Carl Friedrich Gauß, dessen 150. Todestag wir in diesem Jahr gedenken, und dessen Bedeutung für Einsteins Relativitätstheorie wie die modernen Computerprogramme kaum unterschätzt werden kann, dauert es Jahre, bis neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in konkrete Anwendungen einmünden können.

Stets gilt jedoch der für radikal neue Entdeckungen wichtige Satz: „Chance only meets the prepared mind.“ In diesem Sinne möchte ich damit schließen, dass auch in einer Zeit sich immer weiter beschleunigender Produktion und Distribution neuen Wissens die Forschung vor allem dreierlei Dinge benötigt: 1. einen großen Freiraum und ausreichenden Mut zum Risiko, 2. ausreichende Ressourcen sowie 3. nicht zuletzt viel Vertrauen und Geduld. Und zwar von beiden Partnern: der Wissenschaft wie der Politik. Dann – so bin ich sicher – wird es um die Leistungskraft der europäischen Wissenschaft auch in zehn oder fünfzehn Jahren gut bestellt sein.