ENKOR Projektbeschreibung

     

Engagement hat viele Farben. Es zeigt sich in verschiedenen Formen und Ausprägungen und die Vielfalt wird täglich größer. Gerade auch im ländlichen Raum ist Engagement allgegenwärtig. Vom klassischen Ehrenamt oder der Vereinstätigkeit über Bürgergenossenschaften und –initiativen, bis hin zur „Fridays for Future“-Bewegung, Sozialen Orten oder der Internet-Plattform „nebenan.de“, die sich selbst als größtes soziales Netzwerk für Nachbarn beschreibt.
Auch die Akteur*innen werden zunehmend diverser. Während man in der Vergangenheit in lokalen Vereinen, Schulen und Kirchen die Trägergruppen des Engagements ausmachte, beteiligt sich heute ein bunter Akteurs-Mix an der Gestaltung des Lebensumfeldes. Kooperationen von Zivilgesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft nehmen zu, Netzwerke des Engagements entstehen.
Wie die tatsächliche aktive Beteiligung aussieht, hängt nicht mehr nur von der generellen Einstellung gegenüber Engagement ab, sondern von der geforderten Verbindlichkeit und der Höhe des Zeitinvestments, von der Art der Tätigkeit und der Kompatibilität mit anderen Freizeitaktivitäten, der Möglichkeit, sich im Ehrenamt selbst zu verwirklichen oder auch Kompetenzen zu erwerben und den Lebenslauf aufzupolieren. Das Partizipationsverhalten ist dabei nicht gleichbleibend, sondern wandelt sich kontinuierlich. Aktuell wird es als individualistisch, themenspezifisch, politisch konform, projekthaft, unaufwändig, spaßbetont sowie selbstdarstellend beschrieben.
Während Beteiligungsformen in den Handlungsfeldern „internationale Solidarität“, „Bürgerinteressen“ und „Umweltschutz“ Teilnehmer gewinnen, verlieren die eher traditionell freizeitorientierten Vereine im ländlichen Raum Mitglieder und überaltern – vor allem in sehr kleinen Gemeinden (Primer et al 2019, S. 19ff.).
Hat man sich bisher an der Definition der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ im Jahr 2002 (Deutscher Bundestag 2002, s. 333) orientiert, die bürgerschaftliches Engagement als „freiwillig und nicht an wirtschaftlichen Gründen orientiert“ beschrieben hat, das „zumeist gemeinsam ausgeübt wird“, „sich auf Gemeinwohl und Zusammenhalt richtet“ und „im öffentlichen Raum stattfindet“, treten nun vermehrt Engagementformen auf, die eher dem informellen Lebensbereich zuzuordnen sind, wie etwa Nachbarschaften (Anheier 2019; Reutlinger/Stiehler/Lingg 2015). Der Strukturwandel des Engagements führt letztlich auch zu Unschärfen der Definition von Engagement oder Ehrenamt.

Das Projekt

Die Freiwilligensurveys 2014 und 2019 belegen, dass die Deutschen vielfältig öffentlich aktiv und freiwillig engagiert sind, sogar mit steigender Tendenz. Dies unterscheidet sich jedoch regional sehr deutlich. In der Vergangenheit waren es entweder bundesweite Surveys oder Einzelfallstudien, die über die Lage des Engagements in ruralen Räumen berichtet haben. Regionale Vergleiche, insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschland, fehlen bisher weitgehend. Das Projekt „ENKOR Engagementkonstellationen in ländlichen Räumen – Ein Ost-West-Vergleich“ setzt genau hier an. In Kooperation mit dem TRAWOS-Institut der Hochschule Görlitz und dem Thünen-Institut für Regionalentwicklung soll in neun ländlichen Gemeinden Ost- und Westdeutschlands (jeder Partner bearbeitet jeweils drei Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Hessen) bürgerschaftliches Engagement untersucht werden, im Hinblick auf:
  • Erscheinungsformen: Wodurch zeichnet sich Engagement in ländlichen Räumen mit seinen spezifischen Herausforderungen heute aus? Welche Engagementformen und -typen sowie Akteurskonstellationen lassen sich ausmachen und welche spezifischen Wandlungsprozesse sind erkennbar?
  • Kontextfaktoren: Welche Kontextbedingungen wirken auf das ländliche Engagement? Welche Rolle spielt für ost- und westdeutsche Regionen die Geschichte vor und nach 1989/90?
    • sozialgeographische, demographische, wirtschaftliche und politisch-administrative Rahmenbedingungen
    • Infrastrukturen wie Versorgungs- und Verkehrsinfrastrukturen, Bildungs- und Kultureinrichtungen
    • Sozialstrukturen und Organisationen (soziale Schichtung, Milieus, Familien, Nachbarschaftsorganisationen)
    • Politische Organisationen und Aktivitäten (Parteien, Verbände, Bewegungen)
    • Soziale, politische und kulturelle Traditionen sowie Pfadabhängigkeiten wie regionale Geschichte und Kulturen, Konfessionen, regionale/lokale Identitäten, Protest- und Konfliktgeschichte
  • Konstellationen und Interdependenzen im Engagementhandeln: Wie beeinflussen sich regionale Kontextbedingungen, engagierte Akteur*innen und Engagementformen vor Ort? In welchem Spannungsverhältnis stehen Engagement, Öffentlichkeit und Demokratie?
  • Tradition und Innovation: Welche Engagement-Innovationen (etwa freizeitorientiert, karitativ oder ökologisch) treten in den unterschiedlichen Regionen auf? Welche Kontextbedingungen und Akteurkonstellationen befördern Innovation?
  • Welchen Herausforderungen und Hemmnissen sehen sich diese innovativen Akteur*innen gegenüber?
  • Zukunftspotentiale: Über welche Potentiale verfügen unterschiedliche regionale Engagementkonstellationen? Welche Formen der Selbstorganisation und externe Unterstützungsleistungen erscheinen dabei fördernd bzw. hemmend? Können neue Akteur*innen einbezogen werden? Welche Rolle können in diesen Prozessen partizipative Formen der Wissensgewinnung und –anwendung (etwa über citizen science oder partizipative Sozialforschung) spielen?
Das Besondere der Erhebung ist der detaillierte Blick, der nicht auf Gemeindeebene endet, sondern bis auf das Dorf heruntergebrochen wird. Die Heterogenität der einzelnen Gemeindeteile geht nicht verloren, sondern wird betont.

Die Ziele des Projektes

Das Projekt dient der Erweiterung des Wissensbestandes um die Verbreitung, Bedingungen, Formen und Themen sowie Bedarfe von Ehrenamt und bürgerschaftlichem Engagement in diversen ländlichen Räumen.
Ziel ist die Erarbeitung einer Kartographie unterschiedlicher Typen und Konstellationen bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen, die sich exemplarisch zur Einschätzung (Analyse-Tool) und Unterstützung ländlichen Engagements verwenden lässt.
Darüber hinaus die partizipativ gestützte Erarbeitung (citizen science) von kontextsensiblen und typengerechten Entwicklungszielen, -Strategien und -Instrumenten für bürgerschaftliches Engagement.
Außerdem die Weiterentwicklung von relevanten Forschungsmethoden bzw. die Entwicklung neuer, explorativer Untersuchungsansätze (bspw. Landinventur) und Engagementkonzepte.
Die nachhaltige Begleitung zivilgesellschaftlicher Akteure und Kommunen zur Weiterentwicklung bürgerschaftlichen Engagements vor Ort steht ebenso im Fokus, wie die Erarbeitung von Handlungsoptionen zur Gestaltung des bürgerschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen. Das umfasst Handlungsempfehlungen für lokale Akteur*innen, Verwaltung und Politik, die eine Antwort auf die Frage geben sollen: Wie kann Engagement in ländlichen Räumen zukunftsfähig gestaltet werden und so zur Entwicklung ländlicher Räume einen entscheidenden Beitrag leisten?
Ergänzend soll eine neue Diskussion angestoßen werden darüber, wie bürgerschaftliches Engagement heute gegebenenfalls anders zu begreifen und sozialwissenschaftlich zu erfassen ist, welche Bedeutung es für soziale Integration und lokale Entwicklungschancen besitzt und in welchem Zusammenhang Engagement und Öffentlichkeit (auch definitorisch) stehen? Davon wird auch abhängen, wer die unterschiedlichen Zielgruppen von öffentlicher Engagementförderung in Zukunft sein werden.

Die Methoden

Die angewandten Methoden im Projekt „ENKOR Engagementkonstellationen in ländlichen Räumen“ sind partizipativ, multimethodisch und komparativ sowie in dieser Konstellation ein Alleinstellungsmerkmal.
Nach der theoretischen Rahmung und Operationalisierung der Kernkonzepte „Engagement“ und „ländlicher Raum“, unter Berücksichtigung von Rahmenbedingungen und Kontextvariablen wie beispielsweise sozio-demografischen oder agrarstrukturellen Strukturen, erfolgen Expert*innengespräche zur Vorbereitung der Feldforschung, die wie folgt geplant ist:
  1. Landinventur unter Beteiligung der Einwohner*innen der Gemeinden und ihrer Ortsteile. Dieses Arbeitsmodul dient folgenden Zielen:
    • Erschließung des Forschungsfeldes, Exploration der Region, Erfassung von Daten zu Sozial- und Wirtschaftsstrukturen
    • Konkrete Erfassung der unterschiedlichen Formen bürgerschaftlichen Engagements auf Dorf- und Gemeindeebene durch die Bewohner selbst
    • Gewinnung von Multiplikator*innen und Expert*innen als Co-Forschende in den ausgewählten Gemeinden
  2. Im Anschluss an die Landinventur und die quantitative Kontexterfassung folgen die lokalen Intensivanalysen:
    • Durchführung der Fallstudien auf Basis eines gemeinsamen Feldforschungsdesigns aller Partner
    • Bestandsaufnahme der Engagementformen und –typen ergänzend zur Landinventur
    • Dies erlaubt umfassende Fallbeschreibungen und -analysen, welche über komparative Methoden zu Typenbildungen und Erklärungsmodellen führen sollen.
  3. Nach bürgerwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Feldforschung wird mit Bürger*innen partizipativ in Engagementwerkstätten an passgenauen Lösungsstrategien und möglichen Unterstützungsangeboten für (potentiell) Engagierte gearbeitet. Die selbst erhobenen, aktuellen Daten, verschnitten mit den wissenschaftlichen Datenquellen, zeigen passgenau die Ansatzpunkte für Aktive vor Ort, dienen als Grundlage für neue Dorfentwicklungs-Projekte, als Teil von Planungsprozessen und der förderpolitischen Entscheidungsfindung auf Gemeinde-, Kreis- und Landesebene.
Darüber hinaus ist zur Nachwuchsförderung geplant, Studierende der drei Hochschulstandorte intensiv an der Erstellung der Gemeindestudien zu beteiligen. Dazu werden entsprechende Veranstaltungs- und Forschungsformate (Forschungsseminare und -praktika sowie Abschlussarbeiten BA/MA) genutzt. Die Studierenden werden sich dabei sowohl untereinander, als auch mit den Engagierten austauschen können.
Fachveröffentlichungen und Wissenstransfer begleiten das Projekt kontinuierlich.


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