Vietnam: Die gesellschaftliche Verortung des Religiösen und Spirituellen im Kontext der asiatischen Moderne

Teil des Kompetenznetzwerkes "Dynamiken von Religion in Südostasien (DORISEA)(Bundesministerium für Bildung und Forschung - Programm "Stärkung und Weiterentwicklung der Regionalstudien (area studies)"

In Vietnam haben sich seit dem Beginn der Reformpolitik im Jahre 1986 immer mehr Freiräume für das Religiöse und Spirituelle ergeben, so dass sich die Frage nach der Rolle des Religiösen und Spirituellen in der Gesellschaft Vietnams neu stellt. Auch wenn die offizielle sozialistische Staatsideologie noch immer einen gesellschaftlichen und politischen Führungsanspruch erhebt und auf eine normative Modernität hin ausgerichtet ist, nutzen die Akteure religiöse und spirituelle Praktiken, um sich mit Modernisierungsprozessen auseinandersetzen, und handeln den gesellschaftlichen Ort und die Freiräume der Religion und Spiritualität in Auseinandersetzung mit dem Staat und anderen Modernisierungsagenten aus. „Moderne“ wird hier auf vielgestaltige Art und Weise interpretiert, angeeignet und abgelehnt. Religion spielt dabei eine sehr wichtige Rolle für die Moderne: sie bedingt sie, vermittelt sie und gestaltet sie, hilft den Menschen mit den Konsequenzen für die Moderne umzugehen, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und sich kritisch von ihr abzusetzen. Moderne wird hierbei in ihren Wirkungen vielgestaltig vermittelt durch konkrete handlungsleitende Modelle von ethisch-moralischen, sozialen, politischen und ökonomischen Ordnungen sowie von Personalität und Handlungsvermögen. Die intellektuellen Grundlagen dieser Modelle (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus, Christentum, Ahnen- und Geisterkult, Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus-Kommunismus) sollen mithilfe von Literatur- und Archivbeständen so weit herausgearbeitet werden, dass sie als Grundlage einer ethnographischen akteurszentrierten Untersuchung dienen können. Diese wird sich dann Kontexten im urbanen Vietnam zuwenden. Verortung ist dabei nicht nur metaphorisch in Bezug auf die Rolle des Religiösen und Spirituellen im gegenwärtigen Vietnam gemeint. Vielmehr sollen durch die konkreten Formen der Verortung religiöser und spiritueller Praktiken in der räumlichen Praxis jene Schnittstellen zugänglich gemacht werden, die Akteure, Praktiken und Handlungsmodelle zusammenbringen: die rituelle Praxis, der Ahnen- und Geisterkult sowie der Bereich der divinatorischen Praktiken (Horoskopie, Geomantik und Physiognomie). Erster Ansatzpunkt wären hier spezifische sakrale Geographien, räumliche Pfade der rituellen Praxis konkreter Akteure oder die Auseinandersetzung um die Deutung und Nutzung ritueller Orte – also Räumlichkeiten, in denen Religiosität, Spiritualität und Modernität durch die Akteure zusammengeführt werden. „Modernität“ soll hierbei als ein Bündel von Strukturierungsprinzipien gefasst werden, die in und durch die räumliche Praxis artikuliert werden, z.B. durch die staatlich-administrative Kontrolle des Raumes und der Rituale, die Kommerzialisierung der rituellen Praktiken, die Ökonomisierung der Lebenszusammenhänge oder die Kultur- und Identitätspolitiken.