Die europäische Säule sozialer Rechte

Im November 2017 haben das Europäische Parlament, der Rat der Europäische Union und die Europäische Kommission die europäische Säule sozialer Rechte proklamiert. Die Säule beinhaltet Grundsätze zur Sozialpolitik, jedoch noch keine konkreten gesetzgeberischen Initiativen oder gar Ansprüche. Die europäischen Organe bekunden damit eine politische Absicht, deren Verwirklichung noch von konkreter gesetzgeberischer Arbeit abhängt. Diese Absichtserklärungen gehen teilweise über das bestehende EU-Recht und über das Recht in einigen Mitgliedstaaten hinaus. Der Zwittercharakter des Dokuments – politische Selbstverpflichtung einerseits und rechtliche Unverbindlichkeit andererseits – hat zu unterschiedlichen Beurteilungen der europäischen Säule sozialer Grundrechte geführt.
Am 19. Juni 2018 fand eine cege-Diskussionsveranstaltung zu dem Thema der europäischen Säule sozialer Grundrechte statt. Unter der Moderation von Prof. Dr. Frank Schorkopf diskutierten Prof. Dr. Ulrich Becker (Max-Planck-Institut für Sozialrecht) und Prof. Dr. Hartmut Kaelble (Humboldt-Universität zu Berlin) unterschiedliche Aspekte dieses Themenkomplexes und stellten sich den Fragen der interessierten ZuhörerInnen. Die Veranstaltung wurde durch das Nieder-sächsische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung unterstützt, das durch Dr. Albrecht Wendenburg vertreten war.
Die europäische Säule sozialer Grundrechte gliedert sich in drei Kapitel, die wiederum insgesamt zwanzig Artikel umfassen. Kapitel I beinhaltet Grundsätze zur Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, Kapitel II solche zu fairen Arbeitsbedingungen, Kapitel III widmet sich dem Sozialschutz und der sozialen Inklusion.
Das erste Kapitel beinhaltet beispielsweise die Forderung nach einem Recht auf berufliche Bildung und lebenslanges Lernen, das Recht auf Gleichstellung der Geschlechter und Chancengleichheit unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung. Ebenso sollen alle Menschen ein Recht auf eine aktive Unterstützung zur Verbesserung der Beschäftigungsaussichten, etwa durch Unterstützung bei der Arbeitssuche oder Fortbildung haben.
Das zweite Kapitel fordert u. a. sichere und anpassungsfähige Beschäftigung, Unterstützung bei beruflicher Mobilität und gerechte Entlohnung. Darüber hin-aus postuliert es die Pflicht der Mitgliedstaaten die Sozialpartner zu fördern und bei für sie relevanten Fragen anzuhören. Arbeitnehmer sollen Berufs- und Privatleben miteinander vereinbaren und an einem gesunden und sicheren Arbeitsumfeld arbeiten können, an dem auch der Datenschutz gewährleistet ist.
Das dritte Kapitel beinhaltet u. a. das Recht auf früh-kindliche Bildung, das Recht von Arbeitslosen auf Unterstützung, das Recht auf angemessene Alterseinkünfte sowie das Recht aller Menschen auf hochwertige und
bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung. Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf Inklusion, alle Menschen sollen Zugang zu hochwertiger wohnortnaher Langzeitpflege erhalten. Hilfsbedürftige sollen Zugang zu Sozialwohnugen erhalten, sozial Schwache sollen Schutz gegen Zwangsräumungen er-halten, Wohnungslosen sollen Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Alle Menschen sollen Zugang zu essenziellen Dienstleistungen wie Energie, Wasser, Verkehrt, Finanzdienste oder digitale Kommunikation erhalten.
Ulrich Becker stellte die europäische Säule sozialer Rechte überblicksartig vor und unternahm eine Einordnung ihres Charakters. Er verwies darauf, dass die Europäische Kommission schon zu Beginn des Prozesses der Formulierung der Säule hervorgehoben hat, dass soziale Ungleichheit die Wirtschaftsentwicklung hemmen und Produktivitätssteigerungen gut funktionierende Arbeitsmärkte voraussetzen. Es bestehe also ein Zusammenhang zwischen der sozialen Integration und der Marktintegration. Die Säule enthalte keine Rechte im Sinne von Rechtsansprüchen. Man müsse das Dokument eher als politisches Instrument, als „soft law“, betrachten, das seine Wirkung zukünftig in der weiteren politischen Gestaltung entfalten werde.
Hartmut Kaelble zeichnete den historischen Prozess der Genese der europäischen Säule sozialer Rechte nach und betonte wichtige Wegmarken wie etwa die Öffnung der Sozialstaaten für Zuwanderung aus anderen Mitgliedstaaten oder die einheitliche Europäische Akte von 1986. Die europäische Säule sozialer Rechte weise Parallelen zum Befähigungsansatz (capability approach) nach Amartya Sen auf. Es greife darüber hinaus viele Themen aus der Grundrechtecharta auf. Im aktuellen Kontext müsse auch beachtet werden, dass das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die Europäische Union schwinde und die Verkündung der sozialen Grundrechte dazu dienen könnte, dieses Ver-trauen wieder zu stärken.
In der anschließenden Diskussionsrunde diskutierten die Experten u. a. Fragen zur Zuständigkeit der Europä-ischen Union in sozialen Fragen sowie zur Verrechtlichung der Sozialpolitik. Außerdem wurde der Punkt noch einmal aufgegriffen, inwiefern es gelingen kann, durch die Säule das Vertrauen in die EU zu stärken.
Wie üblich klang die Veranstaltung mit einem kleinen Empfang bei Sekt, Orangensaft und Laugengebäck aus, bei dem die Podiumsteilnehmer sowie die BesucherInnen Gelegenheit hatten, die Thematik in informellen Gesprächen weiter zu vertiefen.