Neuerscheinung: 1. Halbband 2020 des SAECULUM

70. Jahrgang (2020), 1. Halbband



Beiträge Themenheft "Invektive Spaltungen? Dynamiken der Schmähung von der Antike bis zur Gegenwart"

Dagmar Ellerbrock/Gerd Schwerhoff: Spaltung, die zusammenhält? Invektivität als produktive Kraft in der Geschichte
Unter dem Neologismus „Invektivität“ werden Phänomene der Schmähung, Beleidigung und Beschämung in einen gemeinsamen analytischen Horizont gerückt. Invektive Kommunikationsakte eint ihr Potential zur Herabsetzung; sie sind geeignet, Bewertungen von Personen oder Gruppen zu transportieren, ihre soziale Position zu verändern, sie zu diskriminieren oder zu exkludieren. Invektivität prägt auf diese Weise ganz wesentlich gesellschaftliche Ordnungen, sie kann diese dynamisieren und irritieren, ebenso jedoch auch stabilisieren. Denn die Effekte invektiver Kommunikationsakte sind keinesfalls durch die Intentionen der ‚Sender‘ vorgezeichnet, sondern ergeben sich erst durch die Anschlusskommunikation zwischen den Akteuren und dem jeweiligen Publikum. Der Aufsatz beschäftigt sich mit den – häufig emotional bestimmten – Dynamiken invektiver Kommunikation, mit ihren historischen Konstellationen und mit ihrer Prägekraft für die gesellschaftliche Ordnung. Er analysiert die Verbindungslinie zu anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Konzepten. Besonderes Augenmerk wird auf die produktive Seite von Schmähungen, auf ihre mobilisierenden und gruppenbildenden Potentiale gerichtet. Damit – so argumentiert der Artikel – handelt es sich bei Invektivität um ein Phänomen, das grundlegend für die Genese und Veränderung jeder sozialen Ordnung ist und damit einschlägig für historische und kulturwissenschaftliche Analysen aller Epochen und differenter Weltregionen, wie dies im folgenden Heft exemplarisch erprobt wird.

Martin Jehne: Die Dickfelligkeit der Elite und die Dünnhäutigkeit des Volkes. Invektivkonstellationen in römischen Volksversammlungen
Im invektiven Schlagabtausch der Römer hatte das Volk als politische Größe, die in den Versammlungen das Staatsvolk verkörperte, eine besondere Stellung, denn das Staatsvolk durfte man als Inkarnation der res publica nicht beleidigen. Dagegen mussten sich die Senatoren, die adelsstolze Elite Roms, immer wieder invektiven Kränkungen aussetzen, auf die sie oft gar nicht oder nur zeitversetzt reagieren konnten. In diesem politischen System konnte man sich daher nur erfolgreich bewegen, wenn man sich einerseits invektiv zur Wehr zu setzen wusste, andererseits aber auch viele verbale Attacken auszuhalten verstand. Die aus dieser Kommunikation hervorgehenden Feindschaften mussten nicht für immer gelten: In einem politischen System ohne stabile Parteibildungen konnte man nur reüssieren, wenn man in der Lage war, sich zur Förderung eigener Interessen auch mit Leuten zu arrangieren, mit denen man vor nicht langer Zeit eine invektive Auseinandersetzung gehabt hatte.

Sita Steckel: Rhetorische Spaltungen. Zur Dynamik von Invektivität im Inneren des hoch- und spätmittelalterlichen lateinischen Christentums
Innerhalb der hochmittelalterlichen lateinischen Kirche des Mittelalters wurden rhetorische Angriffe nicht nur gegen äußere Gegner und häretische Bewegungen gerichtet, sondern auch und gerade gegen christliche Gegner, voran den Klerus und die vielfältigen neuen Orden. Solche zwischen ca. 1100 und 1300 mehrfach auftretenden Formen von Invektivität lassen sich als Teil innerer Pluralisierungsschübe der Kirche verstehen, in denen etablierte Rhetoriken der Herabsetzung (wie die gegen Häretiker, Juden oder Muslime) nun nach innen gerichtet wurden. Wie in zwei Fallbeispielen zu den Polemikern Walter Map im 12 und Wilhelm von St. Amour im 13. Jahrhundert deutlich wird, bewirkte die Mobilisierung von Unterstützergruppen in Konflikt- und Konkurrenzsituationen sozusagen „rhetorische Spaltungen“ der Christenheit. Sie etablierten subalterne Gegenöffentlichkeiten, in denen die Autorität und religiöse Authentizität unterschiedlicher kirchlicher Gruppen in Zweifel gezogen wurden. Das so allmählich entstehende und verbreitete Repertoire kirchenkritischer Invektivität trug erheblich zur inneren Dynamisierung der spätmittelalterlichen Kirche bei. Die Entwicklung erscheint jedoch nicht als „Verfallserscheinung“ der spätmittelalterlichen Kirche, sondern als Symptom der religiösen und kulturellen Pluralisierung der vorausgehenden Jahrhunderte.

Andreas Pečar: Schmähungen im kommunikativen Handeln aufgeklärter Philosophen
An zwei Beispielen werden Schmähungen im kommunikativen Handeln aufgeklärter Philosophen untersucht. Zum einen geht es um eine akademische Fehde zwischen Daniel Strähler und Christian Wolff an der Universität Halle im Frühjahr 1723. Zum anderen geht es um die Auseinandersetzung zwischen Denis Diderot und Jean-Jacques Rousseau, die sich letztlich über mehrere Jahrzehnte erstreckte. In beiden Fällen spielen Schmähungen eine herausgehobene Rolle bzw. werden Äußerungen des einen Beteiligten von dem anderen als Schmähungen wahrgenommen und klassifiziert. Mit Hilfe eines Vergleichs beider Fälle wird untersucht, welche Logik der Argumentation beider Kontrahenten jeweils zugrunde lag und an wen man sich in diesen Auseinandersetzungen jeweils wendete, um Recht zu bekommen.

Felix Brahm: Beleidigung im Antikolonialismus. Zur Bedeutung des Invektiven im Dekolonisationsprozess Kenias und Tansanias
Der Beitrag erforscht die Rolle symbolisch-kommunikativer Herabsetzung in der politischen Auseinandersetzung mit der britischen Kolonialmacht in Kenia und Tansania. Nach einem allgemeinen Problemaufriss werden drei Fälle näher untersucht: die Deklaration einer protokollarischen Beleidigung in Sansibar (1906), der Protest gegen das rassistische kipande-System in Kenia (1920er-Jahre) und das Beleidigungsverfahren gegen Julius Nyerere in Tansania (1958). Die Fallstudien zeigen, wie konkrete Beispiele der Herabsetzung zum Anlass genommen wurden, um auf allgemeine Missstände des Kolonialsystems hinzuweisen und politische Forderungen in der Metropole zu kommunizieren. Die Entgegensetzung von Beleidigung gewann wichtige Funktionen für antikoloniale Politik, sowohl nach innen im Sinne der Selbstbehauptung, Gemeinschaftsbildung und politischen Mobilisierung als auch nach außen im Sinne der Zuspitzung von Kritik, der Erzeugung medialer Aufmerksamkeit und der juristischen Herausforderung der Kolonialmacht.

Eva Giloi: The Beauty of Blight: Creating Insiders and Outsiders in Northern-US Identity
Der Artikel untersucht die Stadtsanierung Newarks in den 1960er-Jahren. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des „Mehltaus“, der im Prozess der Sanierung als ästhetische Invektive profiliert und funktionalisiert wurde. „Mehltau“ ist ein Begriff, der ursprünglich aus dem landwirtschaftlichen Kontext stammt und einen Pilz bezeichnet, der große Ernteschäden verursacht. Dieser Begriff wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Metapher für den städtischen Niedergang verwendet und diente seit den 1960er-Jahren dazu, zu bestimmen, ob ein Gebiet für die „Sanierung“ geräumt werden sollte. Aufgrund der rassisch segregierten Struktur amerikanischer Städte wurden bei den Stadterneuerungsprojekten in Newark vor allem nicht-weiße Familien aus ihren Häusern vertrieben. Diese rassistischen Implikationen der Stadtsanierung standen in scharfem Widerspruch zum Selbstbild der Stadtplaner als Progressive zu einer Zeit, als hässliche Szenen der Gewalt gegen Bürgerrechtler im Süden der Jim-Crow-Ära die abendlichen Fernsehnachrichten beherrschten und das Verständnis von Rassismus definierten. Die ästhetisch-invektive Wendung des Begriffs „Mehltau“ ermöglichte es den Planern, die Widersprüche zwischen den Zielen der Great Society und den Ressentiments, die seit der Großen Migration auch im Norden der USA zu finden waren, zu überspielen. Statt der hässlichen Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen auch in den nördlichen Städten betonte die Metapher die durch die Sanierung angestrebte Verschönerung der Städte. Damit erwies sie sich als effektive Strategie, Afroamerikaner und andere Minderheiten aus ihren angestammten Wohnquartieren zu entfernen, ohne die rassistischen und antidemokratischen Tendenzen der Reformer bzw. des Sanierungskonzeptes explizit thematisieren zu müssen. Als indirekte Herabwürdigung, die vordergründig behauptete, Schönheit zu fördern, anstatt die rassische Demografie der Stadt gewaltsam zu verändern, war „Mehltau“ ein raffinierter Begriff, der es erschwerte, offen politisch gegen sein herabwürdigendes und beschämendes Potential zu opponieren. In diesem Sinne verdeutlicht der Artikel die Produktivität „stiller Herabwürdigungen“, die getarnt, implizit oder auf Umwegen wirksam werden konnten, ohne direkt ausgesprochen zu werden.