Die europäische Fiskalunion — Solidargemeinschaft oder Transferunion?

Am 17. November 2020 veranstaltete das cege die Podiumsdiskussion „Die europäische Fiskalunion — Solidargemeinschaft oder Transferunion?“, erstmals in Form eines Webinars. Das Thema der Veranstaltung war motiviert durch die Initiative „NextGenerationEU“, die eine Antwort der EU auf die ökonomischen Herausforderungen der Mitgliedsstaaten im Zuge der Corona-Pandemie und ein supranationales Unterstützungsinstrument darstellen soll. Über die rechtliche, ökonomische und politikwissenschaftliche Bedeutung dieser Entwicklung diskutierten Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Detlef Horn (Professur für Öffentliches Recht, Universität Marburg), Prof. Dr. Gernot Müller (Professur für Internationale Makroökonomik und Finanzen, Universität Tübingen) und Prof. Dr. Thomas Rixen (Professur für Internationale und Vergleichende Politische Ökonomie, Freie Universität Berlin). Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Frank Schorkopf (Professur für Öffentliches Recht und Europarecht, cege/Universität Göttingen).

Einen ersten inhaltlichen Impuls lieferte Frank Schorkopf, indem er die juristische Dimension andeutet. Während Wirtschaftspolitik grundsätzlich eine nationale Kompetenz ist, wird die Kompetenz über Währungspolitik im Euroraum auf eine supranationale Ebene übertragen. Bei Fiskalpolitik gilt es also stets, auch die damit zusammenhängende Kompetenzverteilung und die Passung zwischen diesen Aspekten zu reflektieren.

Hans-Detlef Horn attestierte dem Aufbauplan der EU eine hohe politische und juristische Kunstfertigkeit und führt dies auf den Krisenmodus zurück, unter dem der Plan entstand. Er greift die grundsätzliche Idee auf, dass die EU mehr Eigenmittel bekommt, um bei wirtschaftlichen Schocks autonom zu reagieren und die sogenannte fiskalische Lücke zu schließen. Für die grundsätzliche fiskalpolitische Ausrichtung betont er den möglichen Schnitt, der nach Auslaufen des aktuellen mehrjährigen Finanzplans im Jahr 2027 eintreten kann. In diesem Zusammenhang rechnet er damit, dass die Umstellung des Liquiditätsprinzips auf das Solvabilitätsprinzip, auch als Schuldentragfähigkeit zu verstehen, die Haushaltsverfassung der EU besonders verändert. Allgemein schätzt er die Konzeption des Aufbauplans als juristisch komplex ein und stellt das Spannungsfeld zwischen Primär- und Sekundärrecht und die unterschiedlichen Auswirkungen für gesetzliche Vorhaben auf nationaler oder EU-weiter Ebene dar.

Gernot Müller sieht in Transfers ein Instrument, um unterschiedliche konjunkturelle Entwicklungen zwischen den Mitgliedsstaaten auszugleichen. Mit der gemeinsamen Währungsunion entfällt für die Mitgliedsstaaten das Instrument der Geldpolitik zu diesem Zweck. Er zeigte, dass die Corona-Pandemie einen wirtschaftlichen Schock mit unterschiedlich starken Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten darstellt und daher im Prinzip durch eine gemeinsame Fiskalpolitik ausgeglichen werden könnte. Er stellte im Anschluss die grundsätzliche Konzeption und Schwachstellen von NextGenerationEU dar. So wird aufgrund der Zweckbindung viel Strukturpolitik betrieben. Außerdem ist der Zeitpunkt ab 2021 zu spät, da dort voraussichtlich bereits eine konjunkturelle Erholung eingesetzt haben wird. Als dritten Punkt kritisiert er, dass sich nur ca. 30 % des Zuteilungsschlüssels an Konjunktureinbrüchen durch die Corona-Pandemie orientiert.

Thomas Rixen nutzte den Ausdruck „Notfallföderalismus“, um zu beschreiben, dass in einer Krise supranationales Handeln an Bedeutung gewinnt und die EU diese Bedeutung aktuell, auch in Form der hier diskutierten Maßnahmen, wahrnimmt. Der Wiederaufbaufonds, der in diesem Zusammenhang etabliert wurde, stellt noch keine politische Grundsatzentscheidung dar und ist keine letztgültige Antwort auf die Frage, wie die grundsätzliche Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten langfristig aussehen wird. Herr Rixen beschrieb weiterführend, dass in der EU die negative Integration – also marktschaffende Freiheits- und Eigenschaftsschutzrechte sowie eine starke Zentralbank – die positive Integration – die Zusammenführung und Koordinierung wirtschafts- und fiskalpolitischer Entscheidungen – dominiert.

Im Anschluss an die Statements der Referenten bestand Raum für Fragen aus dem Auditorium. Diese bezogen sich zum Beispiel auf die fiskalische Lücke und darauf, ob NextGenerationEU möglicherweise ein Schritt in Richtung positive Integration und Reduktion dieser fiskalischen Lücke ist, zum Beispiel in Form einer geplanten Plastiksteuer. Es wird zudem nochmals die juristische Perspektive aufgebracht, indem die demokratische und gesetzliche Legitimation etwaiger fiskalpolitischer Kompetenzverlagerungen angesprochen wird. Ein Blick in die Zukunft wirft die Frage auf, welche Schritte der Ratifizierung der nationalen Parlamente und möglicher Verfassungsbeschwerden folgen werden. Hiermit zusammenhängend werden auch praktische und unmittelbare Sachverhalte diskutiert, zum Beispiel, was nach der vorläufigen Blockade des Programms mittels eines Vetos durch Ungarn und Polen passiert und was eine spätere juristische Aufarbeitung für die unter Umständen bereits erfolgte Etablierung eines solchen Programms bedeutet. Insgesamt halten die Diskutanten fest, dass NextGenerationEU durchaus das Potenzial hat, einen Paradigmenwechsel in der fiskalpolitischen Relevanz der EU darzustellen. Gleichwohl sind noch zahlreiche Fragen der theoretischen Konzeption sowie der praktischen Umsetzung ungeklärt, die Gegenstand anhaltender Debatten in politischen Verhandlungen sowie akademischen Aufarbeitungen sein werden.