SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte

69. Jahrgang (2019), 1. Halbband



Beiträge

Peter Dinzelbacher: Spätmittelalterliche Askesepraktiken als Ausdruck des epochentypischen Dolorismus
Das hohe und vor allem das späte Mittelalter waren die Epochen der weitesten Verbreitung asketischer Ideale in der europäischen Geschichte. Von der Spätantike bis nach der Jahrtausendwende war religiöse Kasteiung fast exklusiv eine Aufgabe der "Virtuosen" des Christentums gewesen, der Eremiten, der Mönche und Nonnen. Erst die mit und nach der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts einsetzende Wandlung der religiösen Mentalität brachte eine deutliche Intensivierung der Laienfrömmigkeit inklusive Übernahme nicht nur der passiven Askese (wie Fasten, Keuschheit usw.), sondern immer mehr aktiver autoaggressiver Leistungen (Flagellation, Ekelüberwindung und Ähnliches).
Es wird dieses Thema primär unter dem Aspekt des Tuns, der Praktik, der Lebenswirklichkeit betrachtet, nur marginal unter dem der theologischen Theorie, wo es um Algodizee ging, eine apologetische Sinngebung des Schmerzes. Der Wunsch, die Passion des Religionsstifters und der Märtyrer möglichst grausam in Wort und Bild darzustellen, sowie die Imitation ihres Leidens am eigenen Körper waren für das 14. und 15. Jahrhundert epochentypische Phänomene des "Dolorismus", die sich primär im Frömmigkeitsleben von Frauen zeigten und zu deren Verständnis der Rekurs auf moderne psychologische Aspekte nötig ist.

Sabine Herrmann: Zwischen Tradition und Innovation. Medizinische Behandlung in den venezianischen Handelskolonien
Die Schriften der venezianischen Konsulatsärzte (medici di condotta) liefern einen einzigartigen Einblick in die therapeutische Praxis Ägyptens und des Nahen Ostens im 16. und 17. Jahrhundert sowie in die - nicht immer spannungsfreien - Begegnungen zwischen europäischen und muslimischen Ärzten und ihren Patienten. Auch wenn die galenische Autorität in Europa letztendlich unangetastet bleiben sollte, gelangten durch die venezianischen Konsulatsärzte zahlreiche bisher unbekannte Pflanzen, die im botanischen Garten von Padua angepflanzt werden sollten, sowie bedeutende therapeutische Ansätze nach Europa.

Philip Knäble: "Moralische Ökonomie"? - Zur Wirtschaftsethik der Schule von Salamanca am Beispiel von Martín de Azpilcueta und Leonardus Lessius
Der Ansatz der "Moralischen Ökonomie" (Moral Economy) erfreut sich in Folge der jüngsten Finanzkrise in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung steigender Beliebtheit, diese loten jedoch seine Potentiale nicht vollständig aus. Denn das Konzept der "Moralischen Ökonomie" bietet mehr Erkenntnisgewinn als die Feststellung, dass Moralisten über Wirtschaft sprechen. Vielmehr hilft der Ansatz, zu untersuchen, wie Akteure auf ältere oder andere ökonomische Semantiken oder Institutionen bei der Beschreibung zeitgenössischer Wirtschaftsformen zurückgreifen. Er unterstreicht gerade die spannungsreiche Koexistenz unterschiedlicher Vorstellungen des Ökonomischen und die Kontexte ihrer Diskursivierung. Dieser Beitrag diskutiert deshalb ausgehend von E. P. Thompson die wichtigsten Beiträge der Frühneuzeitforschung zur Moralischen Ökonomie und lotet ihre Möglichkeiten für die Analyse der wirtschaftsethischen Arbeiten aus dem Kontext der "Schule von Salamanca" am Beispiel von Martín de Azpilcueta (1492-1586) und Leonardus Lessius (1554-1623) aus. Abschließend bietet der Aufsatz einen kurzen Ausblick auf die Potentiale, den Ansatz der moralischen Ökonomie mit der historischen Wirtschaftsstilforschung zu verbinden.

Nicole Wiederroth: Das Mwese Highland Refugee Settlement und (Neu-)Interpretationen des Wandels. Zum Ringen zwischen Mensch und Natur
Nach der Unabhängigkeit 1961 galt Tansania über Jahrzehnte hinweg als eines der Hauptzielländer von Fluchtbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent. Der Beitrag konzentriert sich auf die Anfangsphase systematischer (inter-)nationaler humanitärer Hilfe im Westen Tansanias. Das Hauptaugenmerk liegt auf den wechselseitigen Beziehungen ausgewählter Akteure im Zusammenhang mit Migration und dadurch mit bedingter Transformationsprozesse. Auch um den komplexen Zusammenhängen dieser Phase des Umbruchs der 1960er-Jahre gerecht zu werden, gilt es, nicht nur einen Wandel im materiellen Sinne herauszuarbeiten, sondern ebenso unterschiedliche Interpretationsweisen der Prozesse und Veränderungen aufzuzeigen. Anhand des Mwese Highland Refugee Settlements werden in einer Verknüpfung von Migrations- und Umweltgeschichte sowohl einzelne Veränderungen dargelegt als auch Möglichkeiten herausgearbeitet, diese im Hinblick auf die Interaktion von Mensch und Natur (neu) zu interpretieren.

Skadi Siiri Krause: Montesquieus Theorie des Föderalismus. Grundlagen, Neuerungen und Anwendungen
Montesquieu beschrieb den Föderalismus als ein rechtliches, politisches und soziales Gestaltungsprinzip, das auch für die moderne Föderalismusforschung von Interesse ist. So betrachtete er die horizontale Gewaltenteilung als wegweisende Errungenschaft der Staatstheorie, die er zum wichtigsten Verfassungsprinzip moderner Staaten bei der Sicherung individueller Freiheit erhob. Von ebensolcher Bedeutung war für ihn aber auch die vertikale Gewaltenteilung, bildete sie für ihn doch die Grundlage kollektiver wie lokaler Freiheit.

Yahya Kouroshi: Das Unendliche und das Böse. Zur Übersetzung eines Korankommentars des italienischen Orientalisten G. B. Raimondi (Laurenziana: Ms. Or. 463: ff. 212r-259v)
Die Typographia Medicea war eine auf den Druck mit orientalischen Lettern spezialisierte Druckerei in Rom, welche von Papst Gregor XIII. (1502-1585) und vom Kardinal und zukünftigen Großherzog, Ferdinando de' Medici (1549-1609), finanziert wurde. Der Beitrag untersucht eine von der Forschung bisher noch kaum beachtete italienische Übersetzung eines auf Persisch verfassten Korankommentars durch den Initiator der Typographia Medicea und Orientalisten Giovanni Battista Raimondi (ca. 1536-1614). Zur Diskussion steht das Fragment eines von Raimondi um 1600 im Rom der Päpste ins Italienische übersetzten Korankommentars (Mavahib-i 'Aliyya) des Universalgelehrten Husayn Va'iz-i Kashifi (gest. 1504/5). Die Übersetzung dieses poetisch-exegetischen Sufi-Kommentars wird im Hinblick auf interlinguale und interkulturelle Aspekte der Übersetzungspraxis und -theorie um 1600 untersucht.
Die Analyse von Raimondis Übersetzungspraxis ermöglicht es, aus einer globalgeschichtlichen Perspektive die Dynamiken der Übersetzungs- und Druckpraxis unter besonderer Berücksichtigung religions- beziehungsweise ideengeschichtlicher und ästhetischer Aspekte in Theorie und Praxis der großen europäischen Polyglottenbibelprojekte des späteren 16. und des 17. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. Besondere Berücksichtigung finden dabei die aktuellen (kultur)historisch-vergleichenden Forschungen zur poiesis und mimesis in der (frühen) Neuzeit, ebenso wird auf der Grundlage der aktuellen Theorieansätze zu den skriptographischen und typographischen Medien und im Anschluss an die Debatten über und um eine Global (Art) History (connected/entangled histories) argumentiert.