SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte

71. Jahrgang (2021), 2. Halbband

Cover SAECULUM 2021/2

Beiträge Themenheft „Sacred Spaces: Cultural Dynamics, Interdisciplinary Perspectives“

Kerstin P. Hofmann/Asuman Lätzer-Lasar: Archaeology and Sacred Space: On Ancient and Contemporary Practices of (De-) Sacralization of the Palatine in Rome
Die Archäologie als moderne gesellschaftliche Praxis zur Analyse historischer Prozesse auf der Grundlage materieller Überreste spielt bei der (De-)Sakralisierung antiker Überreste eine ambivalente Rolle. Einerseits liefert sie Belege für die deep history menschlicher Gemeinschaften, andererseits zerstört sie oft unsere Illusionen über die Vergangenheit. Inspiriert von dem französischen Soziologen Henri Lefebvre wollen wir die Produktion sakraler Räumlichkeit bzw. den Prozess der Sakralisierung des (sozialen) Raums analysieren, indem wir das Zusammenspiel des erfahrenen materialisierten Raums mit dem vorgestellten Raum der Repräsentation und schließlich mit dem gelebten sozialen Raum der Praktiken untersuchen. Für unsere Fallstudie, den Palatin in Rom, wählen wir einen praxistheoretischen Ansatz, um die diachronen Transformationen eines sakralen Raums zu analysieren. Der Palatin ist hierfür ein geeignetes Beispiel, da er sowohl in der Antike als auch in der Gegenwart als bedeutendes Kulturerbe und sakraler Raum gilt. Der Beitrag befasst sich mit spezifischen Praktiken der (De-)Sakralisierung des Raums – Wiederholen, räumliches Markieren, Ausrichten, Benennen und Kartieren, Verdinglichen sowie Pflegen und Schützen – und diskutiert die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen eines praxeologischen Ansatzes zur Analyse sakraler Räume.

Christian Stadelmaier: Sacred Space and Its Implications in the Works of Walahfrid Strabo
Mit Blick auf die Darstellung einer Kirchweihe in einer Passage aus Walahfrid Strabos Vita Galli analysiert der vorliegende Aufsatz die Bedeutung des sakralen Raums in ausgewählten Arbeiten des Autors. Neben der fokussierten hagiographischen Quelle findet Walahfrids Libellus de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum Beachtung. Mit einem intertextuellen Ansatz untersucht der Aufsatz die Bedeutung und die Implikationen des heiligen Raums in Walahfrids Texten. In einem ersten Schritt werden Walahfrids Texte in ihrem historischen Kontext analysiert. Zentral sind dabei der Vorgang der Kirchweihe und von da aus die Hervorbringung des heiligen Raums in der Vita Galli. Auf dieser Basis richtet der Aufsatz sein Augenmerk auf Fragen, die ‚sacred space‘ als Konzept betreffen. Durch die Integration eines Konzepts in die historische Analyse von Raum wird dabei tiefergehend nach der Bedeutung und den Implikationen des heiligen Raums im Werk Walahfrids gefragt. Dabei werden auch methodische Gesichtspunkte adressiert. Es wird gezeigt, dass der heilige Raum in den untersuchten Werken zeitgenössische Diskurse einbezieht und einen didaktischen Wert hat. Der heilige Raum ist das Umfeld, in dem correctio realisiert wird und in dem die Entwicklung und die Repräsentation christlicher Identität stattfinden.

Nenette Arroyo: The Shifting Sacred: Architecture and Ritual in the California Missions
Zwischen 1769 und 1823 gründeten franziskanische Missionare einundzwanzig Niederlassungen im spanischen Kalifornien (Alta California). Als zugleich spirituelle und gewerbliche Unternehmungen sollten diese Missionen die indigene Bevölkerung in christliche landwirtschaftliche Siedlungen integrieren und darüber hinaus zur militärischen Sicherung der nördlichen Grenze Neuspaniens beitragen. Bisherige kunsthistorische Studien untersuchten die missionarischen Siedlungen im spanischen Kalifornien vor allem nach Form-Aspekten und legten folglich besonderes Augenmerk auf ihre architektonische und künstlerische Ausgestaltung. Weit weniger Beachtung fanden hingegen rituelle und soziale Praktiken der Raumherstellung, welche jedoch – so das Anliegen dieses Beitrags – für ihre Wahrnehmung und Erfahrung als besondere religiöse Räume ebenfalls zentral waren. Neben der Herausarbeitung der sozialen Dimensionen räumlicher Sakralisierungsprozesse verweist der Beitrag auf die ambivalente bzw. umstrittene Beschaffenheit dieser Räume, welche angesichts der materiellen Überreste mitunter übersehen wird: Er zeigt, dass diese stets auch Orte der Aushandlung zwischen indigenen und christlichen Akteuren sowie auch zwischen der gewerblichen und spirituellen Agenda der Mission bildeten. Der Beitrag analysiert diese Aushandlungen vor dem Hintergrund kolonialer Machtverhältnisse und plädiert dafür, die sakrale Aufladung und Bedeutung der kalifornischen Missionen aus dem Zusammenspiel zwischen errichteten Bauten und sozialer und religiöser Praxis heraus zu untersuchen.

Todd Klaiman: Stakeholder Relations and the Production of Religious Space in a Transnational Chinese Community
Der Beitrag untersucht die Gründung und Entwicklung eines chinesischen buddhistischen Klosters auf Penang (Malaysia) und fragt im Besonderen nach Vorstellungen von bzw. Ansprüchen auf Sakralität in der Entstehung und (Re-)konfiguration religiöser Räume im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dabei arbeitet er nicht nur die Vielfalt von Interessen hinter der Gründung und Nutzung des Klosters heraus, sondern zeigt auch die durch Kooperation und Konkurrenz geprägten Netzwerke, durch welche unterschiedliche Akteure versuchten, die religiöse Landschaft Südostasiens (mit) zu gestalten. Der Beitrag plädiert für eine historische Situierung und Rückbindung von Sakralität und religiösen Räumen an die jeweiligen Handlungen und Interessen lokaler, regionaler und transnationaler Akteure. Er argumentiert mittels einer detaillierten Fallstudie aus Südostasien für die Historisierung und Untersuchung sakraler Räumer an der Schnittstelle religiöser, kultureller, ökonomischer und politischer Prozesse und hinterfragt angesichts der diversen Akteure und Prozesse der Sakralisierung die Annahme von klaren und undurchlässigen Grenzen zwischen religiösen und nicht-religiösen oder sakralen und profanen Räumen.

Benjamin Brendel: Modernity Built on ‘Indian’ Graves: Competing Visions of Sacredness and Power During the Construction of the Grand Coulee Dam (1933–1941)
‚Sacred Spaces‘ können auf sehr profane Dinge und Orte bezogen sein. Beim Bau des Grand Coulee Staudamms, der in den USA zwischen 1933 und 1941 errichtet wurde, trafen unterschiedliche Vorstellungen von ‚Sacred Space‘ aufeinander. Diese Vorstellungen wurden von in der Umgebung lebenden Indigenen und von verschiedenen Akteuren, die mit dem Bau des staatlichen Projektes in Verbindung standen, getragen. Dabei kollidierte der Entwurf einer heraufbeschworenen sakralen Moderne mit indigenen Vorstellungen von Sakralität, die wiederum beide an unterschiedliche Vorstellungen von Zukunft und Vergangenheit rückgebunden waren. Der daraus entstehende Diskurs kann mit Blick auf hauptsächlich mediale Quellen rekonstruiert werden. In dessen Kern ging es dabei um Fragen nach der Deutungshoheit über die ‚Sacred Spaces‘, um Möglichkeiten der Koexistenz verschiedener Vorstellungen und um Partizipation an damit einhergehenden Heilsversprechen. Die Analyse dieses Konfliktes zeigt zudem, wie Vorstellungen von ‚Sacred Spaces‘ klare Machtansprüche in sich tragen, dass dazugehörige Versprechen von Erlösung nur begrenzt offen sind für Partizipation und dass der Vorteil, der mit einem solchen Konzept verbunden ist, auf einem Nachteil für Andere beruhen kann. Darüber hinaus ermöglicht ein solcher Ansatz durch sein Augenmerk auf die Konflikte um ‚Sacred Spaces‘, die Auseinandersetzung um Nutzen wie auch negative Auswirkungen des Staudamms als einer mächtigen Infrastruktur sichtbar zu machen.

Muhamed Riyaz Chenganakkattil: Conceptualizing the Invisible: Jinn Mosques and Sacred Space in India
Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit materieller Religion gehen im Allgemeinen von Vorstellungen aus, die auf der Materialität von Objekten und Räumen basieren. Auch Forschungen zu Fragen des heiligen Raums werden überwiegend aus einer materiell-objektivierenden Perspektive heraus konzeptualisiert. Das Fallbeispiel dieses Beitrags legt einen differenzierteren Ansatz nahe. In Indien besuchen Pilger sakrale Bauten auf ritueller Basis, aus religiösen und aus weltlichen Absichten. Studien zum Sakralraum haben sich in diesem Zusammenhang vor allem auf das Aufsuchen „sichtbarer Sakralräume“ konzentriert. Dem Konzept des „unsichtbaren sakralen Raums“ wurde jedoch weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Dieses Konzept bezieht sich auf einen sakralisierten Raum, der mit unsichtbaren Wesen wie etwa Dschinns verbunden ist, die von Menschen verehrt werden. Hier ist der Raum um eine „imaginierte Sakralität“ herum konstruiert, die unterschiedliche Praktiken hervorbringt. Dschinn-Moscheen sind Beispiele für solche unsichtbaren Räume, deren performative Wirkkraft darin liegt, bei den Gläubigen Vorstellungskraft zu wecken. Dieser Artikel analysiert die Gestaltung solcher Räume anhand einer vielfältigen Bandbreite des Sakralen, die von sensorischen Erfahrungen bis hin zu sakralen Objekten und Lebewesen reicht. Neben einer Diskussion der Sufi-Dschinn-Verknüpfung behandelt der Beitrag die Praxis des Schreibens von Briefen an Dschinns als Modus einer textuellen Konstruktion des heiligen Raums. Er diskutiert verschiedene Aspekte der Dschinn-Architektur, beschäftigt sich mit neuen Formen der Konstruktion von sakralem Raum und legt nahe, von der Idee des unsichtbaren sakralen Raums aus die Dichotomie zwischen den beiden Konzepten des Sichtbaren und des Unsichtbaren in Frage zu stellen.

Martin Radermacher: Religious Agency of Built Environments or Social Construction of Sacred Space? Socio-Spatial Arrangements and the Making of Religious Space
Im Sommer 2013 veranstaltete Kaplan Christian Olding einen römisch-katholischen Gottesdienst im Kino in Kleve am Niederrhein. Mit der Initiative „Veni!“ gestaltete er eine ungewöhnliche katholische Liturgie: Zum Einsatz kamen Mittel wie eine ausgefeilte Licht-Show, Pop-Musik, Video-Einspielungen und künstlicher Nebel, um eine multisensorische Gottesdiensterfahrung im Kinosaal zu ermöglichen. Dieser Gottesdienst wurde zwar kritisch diskutiert, insgesamt aber positiv aufgenommen. Ausgehend von diesem Fallbeispiel dekonstruiert der Artikel die analytisch oft unhinterfragte Unterscheidung von „sakralem“ und „profanem“ Raum: Prinzipiell bietet jeder Raum die Möglichkeit, für religiöse Praxis genutzt oder als religiöser Raum adressiert zu werden. Kein Raum ist per se und genuin sakral. Dennoch erhöhen bestimmte räumliche Bedingungen und Arrangements die Wahrscheinlichkeit einer religiösen Nutzung und Attribution, während andere – wie der Kinosaal – dies mit geringerer Wahrscheinlichkeit tun und einen höheren Aufwand verlangen, wenn sie für religiöse Praxis genutzt werden sollen. Die Fallbeispiele in diesem Aufsatz erlauben analytische Einsichten bezüglich der Frage, wie sakrale Räume im Zusammenspiel von kommunikativer Zuschreibung und materieller Affordanz hergestellt werden. Dazu beginnt der Aufsatz mit einem Überblick zum Forschungsstand hinsichtlich Architektur und Materialität in der Religionsforschung und wendet dann ausgewählte Ansätze auf zwei Fallstudien an. Daneben diskutiert der Beitrag methodologische Aspekte der Untersuchung materieller Affordanzen: Wie ist es möglich, in analytischer Weise die materiell kodierten Semantiken von „built environments“ zu rekonstruieren? Welche semantischen Dispositionen und Spielräume werden von sozial-räumlichen Arrangements nahegelegt?

Michael Stausberg: Auschwitz and the Meta-Topography of the Sacred
Das Religiöse oder Religion sollten nicht vorschnell mit dem Heiligen identifiziert werden. Dieser Beitrag projiziert das Heilige als analytische Kategorie auf die fotografische Darstellung eines bedeutungsschweren Erinnerungsraumes: Auschwitz. Das Heilige als analytische Kategorie in Anschlag zu bringen, beinhaltet die Mobilisierung und Operationalisierung einiger zentraler theoretischer Tropen des theoretischen Diskurses um das Heilige auf Muchas bekannter Fotografie des Torhauses von Auschwitz-Birkenau: das Heilige als das Unaussprechliche, das Heilige als binäre Kategorie, das Heilige als Ansteckung und als transformative Ambiguität, das Heilige als Grenz-Kategorie. Dieses analytische Manöver kann dazu beitragen, die Außerordentlichkeit der Wahrnehmung dieses Erinnerungsortes zur Sprache zu bringen; Auschwitz erscheint dann als „heiliger Ort“ zweiter Ordnung. Der Artikel zeigt außerdem, wie religiöse Akteure diesen heiligen Ort anzueignen und aufzuladen versuchen.