Titel des Projekts:
Sozialpolitik und sozialpolitische Experten in der SPD und der Labour Party. Ideen, Konzeptionen und Programme, 1950-1970.

Während sich die Historiographie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates bisher eher auf die Entwicklung und den Wandel von Institutionen und/oder sozialpolitischen Politikfeldern fokussiert hat, wendet sich das Dissertationsprojekt einer sozialpolitischen Akteursgruppe zu, der sich die - zumindest geschichtswissenschaftliche – Forschung bisher noch kaum in dezidiert systematischer Weise angenommen hat: den Experten im Sozialstaat.
In Anlehnung an die Ausführungen Lutz Raphaels wird diese professionalisierte Gruppe der Experten nicht nur als ein Produkt der sich im 20. Jahrhundert entfaltenden, sozialstaatlichen Arrangements verstanden, sondern zugleich als essentieller Faktor für deren spezifische Ausformung betrachtet. Der Begriff des Experten wird dabei von Raphael weit gefasst: Sowohl neu entstandene Professionen wie Sozialarbeiter, administratives Personal auf verschiedenen Ebenen wie auch mit der Interpretation und Konzeptionierung von Sozialpolitik bzw. sozialpolitischen Ideen befasste Wissenschaftler sind dabei ebenso zu berücksichtigen, wie jene Politiker, die, oftmals nicht im Zentrum der tagespolitischen Arena, durch ihre dauerhafte und nahezu ausschließliche politische Arbeit im sozialpolitischen Feld als ein Art „policy middlemen“ (Hugh Heclo) zwischen den Sphären der Politik und der Wissenschaft fungierten.
Die Zunahme wohlfahrtsstaatlicher Interventionen nach dem Zweiten Weltkrieg zeitigte nicht allein ein quantitatives Anwachsen jener Gruppe, sondern war begleitet von einer Verwissenschaftlichung des sozialpolitischen Feldes. Diese Verwissenschaftlichung ging mit einer zunehmenden Internationalisierung sozialpolitischer Expertise einher, die wiederum von einer Institutionalisierung potentieller Austauschplattformen auf verschiedenen bi- und multinationalen Ebenen erleichtert wurde. Trotz dieses Internationalisierungsaspektes blieben, so eine durch erste Ergebnisse bestätigte These, die national tradierten Wissenssysteme und deren Koordinaten weitgehend intakt: Die kognitiven und konzeptionellen Interpretationsrahmen, die zugleich die Perzeption von sozialen und sozialpolitischen Problemen steuerten, blieben erkennbar bestimmt vom politischen, sozialen und kulturellen Umfeld der jeweiligen Staaten und beeinflussten so nicht allein die Problemwahrnehmungen, sondern zugleich die Problemlösungsansätze im sozialpolitischen Feld. Andererseits war durch die Verbindung von verwissenschaftlicher Sozialpolitik und der Internationalisierung sozialpolitischer Expertise ein permanentes, referentielles Addendum entstanden, das die traditionellen, nationalen „Denkstile“ und „Denkkollektive“ (L. Fleck) in der sozialpolitischen Diskussion herausforderte und modifizierte.
Dies galt auch für jene Experten, die ihre Expertise der Labour Party oder der SPD entweder direkt beratend zur Verfügung stellten oder sich im fachöffentlichen Umfeld beider Parteien bewegten. Eine systematische, historische Analyse dieses Nexus wird Aufgabe der Dissertation sein. Welches waren die Grundkoordinaten in der konzeptionellen sozialpolitischen Arbeit sozialdemokratischer oder der Sozialdemokratie nahestehender Sozialpolitikexperten? Wurden diese Grundkoordinaten durch eine zunehmende Internationalisierung sozialpolitischer Expertise verschoben oder transformiert? Das Projekt wird so zugleich die Frage auszuloten helfen, ob ein europäisches Sozialmodell nicht am ehesten im realm of ideas zu suchen wäre, vermittelt u.a. durch die Perzeption und Konstruktion der sozialen und sozialpolitischen Welt.
Die These von der Existenz und – bedingten – Transformationsresistenz tradierter, national spezifischer Wissenssysteme verweist auf die historische Singularität jedes Untersuchungsfalles. Singularität zu postulieren, impliziert allerdings einen komparativen Bezugsrahmen, ohne den diese Diagnose schlechterdings nicht gestellt werden kann. Marc Blochs Einlassungen zur vergleichenden Geschichtswissenschaft folgend, wird daher eine kontrastorientierte Vergleichsstrategie verfolgt, um die jeweiligen Spezifika beider Fälle gezielt herausarbeiten zu können. Dabei wird davon ausgegangen, dass sowohl die wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in beiden Ländern als auch die innerparteiliche Struktur sowie die generelle programmatische Verortung beider Parteien ausreichende Differenzen bieten, um ein kontrastierendes Verfahren erfolgreich durchführen zu können. Andererseits lassen, wie durch erste Ergebnisse bereits untermauert, programmatische Umorientierungen beider Parteien im sozialpolitischen Feld (v.a. in den 1950ern) eine Analyse internationaler Transfers und der Integration ausländischer Expertise besonders aussichtsreich erscheinen.
Bei der Beantwortung der forschungsleitenden Fragen wird sich das Projekt in der Essenz auf eine kombinierte Analyse von Archivmaterial und publizierter, zeitgenössischer Expertenliteratur stützen. Das Gros des auszuwertenden bzw. bereits ausgewerteten Archivmaterials findet sich im Labour Party Archive in Manchester und im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Exemplarisch sollen hier nur die Bestände des Social Policy Advisory Committee, des Home Policy Sub-Committee oder des sozialpolitischen wie auch des gesundheitspolitischen Ausschusses beim SPD-Parteivorstand und des Arbeitskreises Sozialpolitik der SPD-Bundestagsfraktion genannt werden. Bei den Materialien handelt es sich u.a. um Sitzungsprotokolle, Expertenmemoranda, persönliche Nachlässe oder auch um umfangreichere Forschungsberichte. Weiteres Material findet sich in der Archival Division der British Library of Political and Economic Science sowie im Modern Records Centre der University of Warwick. Bei der zeitgenössischen Expertenliteratur handelt es sich zum einen um Veröffentlichungen der Experten in Buchform sowie um die die sozialpolitische Fachöffentlichkeit konstituierenden sozialpolitischen Periodika. Soweit möglich werden die Quellenstudien durch Experteninterviews ergänzt.


Social Policy Experts within the SPD and the British Labour Party. Ideas, Concepts and Programs, 1950-1970.