Titel des Projekts: Patienten- und Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen Deutschlands, Finnlands und Polens

Gegenstand und Fragestellung
Die Arbeit beschäftigt sich mit Formen und Zielen von Patienten- und Bürgerbeteiligung in verschiedenen europäischen Gesundheitssystemen. Das Augenmerk gilt dabei insbesondere Zusammenhängen zwischen institutionellen Strukturen und Akteurskonstellationen in unterschiedlichen Gesundheitssystemen auf der einen Seite und der Konzipierung und Umsetzung von individueller und kollektiver Betroffenenbeteiligung als politisch-administratives Programm auf der anderen Seite.
„Beteiligung“ wird umfassend verstanden als individuelle und kollektive Einflussnahme bzw. Einwirkung von Patienten und Bürgern auf Entscheidungs- und Handlungsprozesse in der Krankenversorgung und in der Gesundheitspolitik. Beteiligung kann verwirklicht werden als indirekte Beteiligung (repräsentative Beteiligung über Wahlen), direkte Beteiligung (Verfahrens-, Beratungs- und Entscheidungsbeteiligung), als Umfragebeteiligung oder über Auswahl- und Abwanderungsmöglichkeiten (choice und exit).
Zusammenhänge zwischen Beteiligungsformen und -zielen und ihrem institutionellen Kontext lassen sich in zwei Hypothesen spezifizieren, die empirisch zu überprüfen sind:

  • Gesundheitssystemspezifische Beteiligungsstrukturen: Es gibt Vermutungen, dass bestimmte Finanzierungsmodelle und durch diese geprägte Gesundheitssysteme verknüpft seien mit bestimmten Rollenperspektiven und der Betonung bestimmter Rollenaspekte von Patienten und Bürgern, mit vorherrschenden Verantwortlichkeiten und Schwerpunktebenen der Patienten- und Bürgereinbindung.
  • Gesundheitssystemspezifische Beteiligungsziele bzw. Beteiligungsfunktionen: Auf den ersten Blick offenbaren sich zwei Ziele bzw. Funktionen von Beteiligung, wobei Mischformen möglich sind. So ist zu vermuten, dass öffentliche Gesundheitssysteme eher normative Ziele von Beteiligung und Sozialversicherungssysteme funktionale Beteiligungsziele verfolgen. Es bleibt zu prüfen, ob Beteiligung der Demokratisierung oder der Funktionalitätsverbesserung des Gesundheitswesens dient, oder ob mit Beteiligung eine spezifische Kombination dieser beiden Aspekte verfolgt wird.


Den vermuteten Zusammenhängen soll mit Hilfe einer offenen Fragestellung nachgegangen werden. So ist zunächst allgemein zu fragen, ob es – bis zur und seit der Erweiterung von Einflussmöglichkeiten in den letzten Jahren – systemspezifische Formen und Ziele von Patienten- und Bürgerbeteiligung in unterschiedlichen Versorgungs- und Entscheidungsstrukturen im Gesundheitswesen, gibt.
Diese Frage lässt sich dann weiter ausdifferenzieren in Teilfragen nach den systemspezifischen Bestandteilen unterschiedlicher Gesundheitssysteme, nach den (systemspezifischen) Formen von Patienten- und Bürgereinbindung, nach (systemspezifischen) Positionen und Rollen von Patienten und Bürgern sowie nach den (systemspezifischen) gesundheitspolitischen Zielen und Begründungen, konzeptionellen Vorstellungen und strategischen Absichten.
Die Frage nach den politischen Zielen von Beteiligung wird dabei in erster Linie unmittelbar gegenstandsbezogen und programmatisch (Beteiligungszweck) verstanden, auch wenn Akteure und Politikfeld bezogene bzw. steuerungspolitische Absichten nicht außer acht gelassen werden sollen.

Vorgehensweise:
Es empfiehlt sich ein Vergleich unterschiedlicher Gesundheitssysteme, in denen die Einbindung von Patienten und Bürgern im Gesundheitswesen bereits praktiziert wird, um so den Einfluss von systemspezifischen Strukturen und politischen Leitprinzipien auf die Wahl von Beteiligungsformen herauszuarbeiten. Von Interesse sind dabei insbesondere Beteiligungsformen auf unterschiedlichen Ebenen des Gesundheitssystems, so dass in dieser Hinsicht von einer Mehrebenenanalyse gesprochen werden kann. Die Studie ist als fallorientierte vergleichende Analyse mit einem Most Different Systems Design angelegt.
Da tragfähige Konzepte zur Erfassung und Untersuchung von Beteiligung im Gesundheitswesen zunächst noch zu erarbeiten sind und Beteiligung erst seit kurzem praktiziert und noch nicht statistisch dokumentiert wird, liegt die Verwendung qualitativer Methoden in dieser Untersuchung nahe. Als Verfahrenstechniken werden eine Dokumentenanalyse angewandt und eine konzeptgeleitete qualitative Inhaltsanalyse bzw. ein Verfahren zur inhaltlichen Strukturierung und Zusammenfassung des Textmaterials.
Für den Ländervergleich wurden Finnland mit einem steuerfinanzierten, öffentlichen und dezentralisierten Gesundheitssystem und Deutschland als Sozialversicherungssystem mit öffentlichen und privaten Anbietern, in dem wichtige Entscheidungen zentral getroffen werden, ausgewählt, sowie das postsozialistische Polen mit einem gemischt organisierten Volksversicherungssystem.

Bezug zum Rahmenthema des Graduiertenkollegs
Das Thema fügt sich ein in das Themenfeld „Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells in der globalen Ökonomie“ des Graduiertenkollegs. Die neuerdings zu beobachtende Mitbeteiligung von Bürgern bzw. Patienten und eine neue Informationspolitik im Sozial- und Gesundheitsbereich lassen darauf schließen, daß sich ein verändertes Europäisches Sozialmodell auch durch eine stärkere Berücksichtigung der eigentlichen, unmittelbar Betroffenen, d.h. der Beachtung individueller Interessen und Anliegen auszeichnen wird.