Die Kṣatrapas

Eine Inschrift aus Takṣaśilā aus dem ersten vor-christlichen Jahrhundert nennt einen Liaka Kusuluka und seinen Sohn Patika Kṣatrapas der Distrikte von Kṣahara und Chukhsa, einem Gebiet in Kashmir. Und einer etwas jüngeren, ebenfalls aus Takṣaśilā stammenden, zufolge war Jihoṇika, auf seinen Münzen Zeionises genannt, ebenfalls ein solcher Kṣatrapa, der in genanntem Gebiet auf Patika folgte. Diese Gouverneure – Kṣatrapas genannt nach dem iranischen Wort *xšaθrapa „die Herrschaft schützend“, wovon auch Griechisch σατράπης „Satrap“ – regierten Teilgebiete des Śaka-Reiches. Es hat sich eingebürgert, diejenigen, die über Kashmir, den Osten des Panjab und das angrenzende Mathurā herrschten, als „nördliche“, diejenigen, die Kāṭhiāwār, Mālwa, Gujarat und Teile Maharashtras unter sich hatten, als „westliche“ Kṣatrapas zu bezeichnen. Die Gebiete beider Zweige verblieben zwar außerhalb des indo-parthischen Reiches, doch überstanden nur die „westlichen“ Kṣatrapas den Untergang des Śaka-Reiches. Und mit dem Niedergang der Kuṣāṇas stiegen sie um etwa 150 n. Chr. gar zu einer bedeutenden Macht Zentralindiens auf, zumal nach einer Allianz mit den Śātavāhanas. Es waren erst Candragupta II. und Kumāragupta I., die Ende des vierten nach-christlichen Jahrhunderts ihrer Herrschaft ein Ende setzten.
Durch Inschriften wissen wir, daß von ca. 50 vor bis 50 nach Chr. (Mahā)kṣatrapas in Mathurā herrschten, dem Μόδουρα ἡ τῶν θεῶν des Ptolemaios (VII,1,50) – dies wohl das östlichste Gebiet, das je zum Reich der Śakas gehörte. Von diesen Mahākṣatrapas seien an dieser Stelle lediglich Rājūvula und sein Sohn Śoḍāsa namentlich genannt, beide auf der Inschrift eines Löwenkapitells aus Mathurā erwähnt. Von beiden sind auch Münzen auf uns gekommen, die u.a. Lakṣmī, die indische Göttin des Glücks, und deren Besprenkelung mit Wasser durch Elefanten zeigen, ganz wie die von Azilises. Diejenigen, die Rājūvula in Jammu in Umlauf bringen ließ, zeigen, daß seine Herrschaft dort von Gondophares beendet wurde. Da dies zwischen 20 und 45 n. Chr. geschehen sein muß, lebte Rājūvula nicht, wie bislang angenommen, in der zweiten Hälfte des ersten vor-christlichen Jahrhunderts, sondern gegen dessen Ende resp. zu Beginn des ersten nach-christlichen Jahrhunderts. Sein Sohn Śoḍāsa, der nur in Mathurā regierte, muß folglich in die Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus gesetzt werden (s. auch unten) und nicht ins Jahr 16 n. Chr., wie dies auf Grund einer Inschrift auf einer Votivtafel aus Kaṅkālī Ṭīlā (bei Mathurā) geschehen ist, deren Datum – das Jahr 72 – man auf die Vikrama-Ära bezogen hat. Daß die genannte Kapitell-Inschrift seiner Gemahlin von Schenkungen an den buddhistischen Orden „zu Ehren des ganzen Śakasthāna“, des ʻLandes der Śakasʼ, spricht, deutet auf eine enge Verbundenheit mit der afghanischen Heimat der Śakas und damit vermutlich auf ein Zugewandertsein von dort hin. Er und Gondophares scheinen also in verschiedene Teile Indiens eingedrungen zu sein, der eine über die Pamir-Route ins obere, der andere über den Bolan-Paß ins untere Indus-Tal. Mit Rājūvula beginnt, unseren derzeitigen Zeugnissen nach, die gemeinsame Herrschaft von Mahākṣatrapa und Kṣatrapa, für gewöhnlich Vater und Sohn, welch letzterer nach dem Tode seines Vaters dessen Stellung als Mahākṣatrapa übernahm. Gegen Mitte des ersten nach-christlichen Jahrhunderts wurden die nördlichen Kṣatrapas, die nun einheimische Namen trugen – Zeichen der Indisierung der Śakas –, durch die Kuṣāṇas, ihre Nachfolger im nordwestlichen und zentralen Nord-Indien, entmachtet.
Es ist vermutet worden – ohne daß dafür strikte Beweise hätten erbracht werden können –, daß die frühen westlichen Kṣatrapas, auch Kṣaharātas genannt, zunächst als Gouverneure der Kuṣāṇas über Kāṭhiāwār und Mālwa herrschten. Der erste von ihnen war – unserem derzeitigen Wissen nach – Aghudaka Iyana, dem Bhūmaka nachfolgte. Von beiden besitzen wir lediglich Münzen. Auf Bhūmaka folgte (der in Bharukaccha regierende) Nahapāna, im Periplus (Περίπλους τῆς Ἐρυθρᾶς θαλάσσης), dem um 40-70 n. Chr. verfaßten ʻLogbuchʼ eines uns namentlich nicht bekannten Autors, Μανβάνος genannt, ein Zeitgenosse Śoḍāsas (s.o.). In seiner Regierungszeit wurden die Kṣatrapas von den Śātavāhanas unter Gautamīputra Śātakarṇi besiegt – dies dürfte 70 n. Chr. geschehen sein –, und ihr Herrschaftsgebiet verlor Teile seines Südens. Münzen, auf denen Nahapāna-Legenden durch solche von Sases überprägt sind, erweisen – entgegen dem, was so viele Werke zur indischen Geschichte sagen – die Mitte des ersten nach-christlichen Jahrhunderts als Lebenszeit dieses Kṣastrapa. Mit Nahapānas Nachfolger Caṣṭana, Sohn des Ysāmotika, wechselt die Kṣatrapa-Herrschaft kurz nach 70 n. Chr. in eine andere Familie, die der Kārdamakas, deren Stammsitz Ujjain gewesen zu sein scheint. Caṣṭana, der Τιαστανός des Ptolemaios, konnte die alte Größe des Reiches wiederherstellen. Und seinem Enkel Rudradāman, Sohn des Jayadaman, der – einer Zeitangabe in seiner berühmten Inschrift von Junāgaḍh (Kāṭhiāwār) zufolge – in der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus lebte (149/50 n. Chr.), gelang es, diese in Kriegen gegen die Śātavāhanas und die Yaudheyas, einen Stamm in der Gegend um Lahore, noch zu mehren. Nachdem die Herrschaft über Gujarat und Kāṭhiāwār für fast 175 Jahre in der Familie des Caṣṭaṇa verblieben war, ergriff jedoch zu Beginn des vierten Jahrhunderts Rudrasiṃha II., ein Mann unklarer Herkunft, die Macht. Danach neigte sich aber die Herrschaft der Kṣatrapas langsam ihrem Ende zu. Die beiden großen Dynastien Nord- und Zentral-Indiens, die Guptas und die Vākāṭakas, annektierten Teile ihres Herrschaftsgebietes. Und als gegen Ende des 4. Jahrhunderts der letzte uns bekannte Regent dieser Dynastie, Rudrasiṃha III., zunächst von Candragupta II. und wenig später dann von Kumāragupta I. vernichtend geschlagen wurde, wurde auch das ihr noch verbliebene Herrschaftsgebiet Teil des Gupta-Reiches.