Vermeidung und Verkürzung von Untersuchungshaft durch frühzeitige Strafverteidigung

(Stand des Projekts: abgeschlossen)

Seit Juli 1998 findet an der JVA Hannover ein besonderes Praxisprojekt statt: Unverteidigten Untersuchungshaftgefangenen wird eine vom Projekt finanzierte Verteidigung angeboten; die Kosten hierfür wurden zunächst bis Mitte 2000 von der privaten „Internationalen Stiftung zur Förderung von Kultur und Zivilisation“ getragen, seitdem wird das Projekt vom Land Niedersachsen weitergeführt.

Das Projekt wurde von der Abteilung Kriminologie der Universität Göttingen wissenschaftlich begleitet. Die Evaluation bezieht sich auf einen Kontrollzeitraum (01.07.1997 - 30.06.1998) sowie einen Projektzeitraum (07.01.1998 - 15.05.2000), wobei drei verschiedene Projektvarianten
ausprobiert worden sind. Die Zielsetzung des Projekts konnte im wesentlichen erreicht werden:

Mit Hilfe des Projekts gelingt es, dass ein größerer Anteil an Untersuchungsgefangenen wesentlich schneller als bisher einen Verteidiger erhält. Über 90% der Projekteilnehmer der Projektvariante II - Verteidigungsangebot mit Beginn der Untersuchungshaft - und der Projektvariante III - Verteidigungsbeginn vor oder bei Vorführung - waren innerhalb von zwei Wochen ab Inhaftierung verteidigt.

Die Projektvariante I - Verteidigungsangebot nach einem Monat - kommt zu spät. Die meisten Untersuchungsgefangenen haben zu diesem Zeitpunkt einen Wahlverteidiger (der aber oft nur auf dem Papier steht) engagiert, oder einen Pflichtverteidiger erhalten.

Die Projektvariante II - Verteidigungsangebot mit Beginn der Untersuchungshaft - ist erfolgreich; sie führt zu einer beträchtlichen Haftverkürzung. Dabei geht die Haftverkürzung vor allem auf eine Verfahrensverkürzung zurück. Es finden sich Indizien dafür, dass dieser
Verkürzungseffekt durch frühzeitiges formelles Eingreifen des Strafverteidigers durch Haftkontrollanträge, informelle Absprachen und Hinwirken auf Kooperation zwischen den Verfahrensbeteiligten (im Rahmen des Aussageverhaltens der Beschuldigten) bewirkt wird.

Die (nur am Amtsgericht Hannover durchgeführte) Projektvariante III - Angebot der Verteidigung bei der Vorführung vor dem Haftrichter - ist ambivalent zu bewerten: Ein Haftvermeidungseffekt kann nicht belegt werden; jedoch führt auch die sofortige Verteidigung zu einer Haftverkürzung. Allerdings sind die praktischen und organisatorischen Schwierigkeiten beträchtlich; es kommt zu einer erheblichen Mehrbelastung der Haftrichter (und der Verteidiger).

Nach Aussagen der Vollzugsbediensteten und Untersuchungsgefangenen vermindert sich deren psychische Belastung und das Anstaltsklima verbessert sich dadurch.

Die Befragung hat ergeben, dass die frühe Verteidigung in allen beteiligten Berufsgruppen jedenfalls auf gewisse Akzeptanz stößt; wenn auch Staatsanwälte und Richter insbesondere bei der Projektvariante III große Probleme sehen.

Eine ökonomische Kosten-Nutzenanalyse lässt sich nicht durchführen. Dies scheitert vor allem an der exakten Bestimmung der realen/fiktiven Haftkosten. Die Projektverteidigung ab Beginn der Untersuchungshaft erzielt zwischen 12 und 20 Tagen Haftersparnis (je nach dem, mit welcher Berechnungsmethode die weiteren Einflussgrößen berücksichtigt werden). Dem stehen durchschnittliche Mehrkosten für die Projektverteidigung von ca. 330 Euro gegenüber. Legt man - wie allgemein üblich - einen Mindesttagessatz von rund 80 Euro an Haftkosten zugrunde, so „rechnet“ sich das Projekt auch ökonomisch.