Menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten

Das Forschungsprojekt untersucht die Provenienz von menschlichen Überresten aus kolonialen Herkunftskontexten im Museum am Rothenbaum in Hamburg (MARKK) und in zwei anthropologischen Sammlungen der Universität Göttingen. Im Fokus stehen zum einen Gebeine in der sogenannten "Anthropologischen Sammlung", die zwischen den 1880er und 1930er Jahren am damaligen Museum für Völkerkunde in Hamburg (heute MARKK) entstand und in den 1950er und 1960er Jahren an die Universität Göttingen abgegeben wurde, allerdings nicht vollständig. Kürzlich wurden im MARKK Schädel und Skelettreste wiederaufgefunden, von denen nach jetzigem Wissensstand 57 offensichtlich aus kolonialen Kontexten stammen. Besonders prekär ist der Umstand, dass in manchen Fällen Schädel und Skelett(-teile) eines Menschen auf beide Standorte verteilt aufbewahrt werden. Die im MARKK vorgefundenen Ancestral Remains konnten vorläufig verschiedenen postkolonialen Herkunftsländern in Afrika und Ozeanien zugeordnet werden: Papua-Neuguinea, Tansania, Federated States of Micronesia, Solomon Islands, Samoa und Kamerun.

Zum anderen wird die von Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) begründete Schädelsammlung in die Untersuchungen des Forschungsprojekts einbezogen. Die Sammlung gehört heute zum Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen und umfasst ca. 840 Schädel. Darunter befinden sich 31 Schädel aus Australien, die zwischen 1793 und 1934 eingeliefert wurden und für die eine Rückgabeforderung aus Australien vorliegt.

Beide anthropologischen Sammlungen der Göttinger Universität, die Blumenbachsche Schädelsammlung und die Anthropologische Sammlung, enthalten Ancestral Remains aus verschiedenen kolonialen Kontexten, Regionen und Zeitphasen. Bei der Auswahl der zu untersuchenden Herkunftskonvolute in beiden Sammlungen werden prioritär bereits vorliegende bzw. zu erwartende Rückgabeforderungen berücksichtigt. Neben der Rückforderung aus Australien liegen formelle Rückgabeersuchen aus Palau und Namibia vor.

Aus der Zugehörigkeit der Anthropologischen Sammlung in verschiedenen Zeitphasen sowohl zum Hamburger Museum als auch zur Göttinger Universität resultiert eine gemeinsame Verantwortung beider Einrichtungen für die Provenienzforschung und gegenüber den Herkunftsgesellschaften, von denen die Ancestral Remains stammen. Dem entspricht die Verbundstruktur des Projekts. Zudem sollen die Umstände ihrer Übertragung vom damaligen Museum für Völkerkunde Hamburg an die Universität Göttingen beleuchtet werden.

Ein Workshop wird am Projektende die Ergebnisse der Projektarbeit mit ExpertInnen aus den Herkunftsländern diskutieren. Abschließend werden die Ergebnisse der Provenienzforschung in Form eines Forschungsberichts auf den Websites des MARKK und der Universität Göttingen zugänglich gemacht. Sie fließen zudem anschließend ein in eine Sonderausstellung zum Thema „Provenienzforschung“ im Forum Wissen in Göttingen, die Ende 2025 stattfinden wird.

Menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten. Provenienzforschung in den anthropologischen Sammlungen der Universität Göttingen und im MARKK Hamburg
Bearbeiter: Dr. Holger Stoecker

Dr. Holger Stoecker, Historiker, beschäftigt sich mit der afrikanisch-deutschen Kolonial- und Wissenschaftsgeschichte sowie mit Provenienzforschungen zu Sammlungsobjekten aus kolonialen Kontexten. Er hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Geschichte studiert und promovierte dort 2006 mit einer Arbeit über die „Afrikawissenschaften in Berlin von 1919 bis 1945. Zur Geschichte und Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes“. Von 2010 bis 2013 war er Mitarbeiter des Charité Human Remains Projects (DFG) und erforschte dort die Erwerbskontexte von menschlichen Überresten aus dem heutigen Namibia. Zwischen 2015 und 2018 untersuchte er im BMBF-Verbundprojekt „Dinosaurier in Berlin“ am Seminar für Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin die koloniale und politische Geschichte der afrikanischen Dinosaurier in Berlin. 2018/2019 forschte er am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité über die Provenienzen von menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten in Afrika (Fritz Thyssen Stiftung). Seit Juli 2020 ist Holger Stoecker Mitarbeiter im VW-Projekt „Sensible Provenienzen“ am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Göttingen.