Prof. Dr. Christian Kiening: Forschungsprojekt

Urszenen des Medialen – Von Moses zu Caligari

Mediengeschichte existiert seit weniger als einem Jahrhundert. Die meiste Zeit aber seit ihrer Begründung durch Balász oder Benjamin, McLuhan oder Innis ist sie als Geschichte von Techniken und technischen Innovationen betrieben worden: der Schrift, des Buchdrucks, der Photographie, des Films, des Radios, dann der elektronischen und digitalen Medien. Zwar gibt es mittlerweile eine kulturwissenschaftliche Medienforschung, die den Blick über die traditionellen Kommunikationsmedien hinaus auf eine bunte Vielfalt materieller Formen und symbolischer Formationen richtet, welche allesamt als Medien beschrieben werden können: von Fortbewegungsmitteln wie Rad oder Pferd bis hin zu abstrakten Gefügen wie Geld oder Macht, Glaube oder Liebe. Auch hier aber dominiert häufig eine isolierte Betrachtung einzelner Medien in ihren sozialen, politischen und ästhetischen Dimensionen – einzelner Medien, deren genuine Medialität so etwas wie den blinden Fleck der Betrachtung bildet. Verschiebt man das Interesse von der Frage, was Medien seien, zu der, was in welchen Situationen als Medium fungiert, stößt man auf das grundlegendere Problem der Bedingungen der Möglichkeit des Medialen. Dabei erweist sich, dass die Aufmerksamkeit nicht nur dem Bild zu gelten hat, das uns Medien von der Welt geben, sondern auch den Bildern, die unsere Vorstellungen von dem, was medial sei, prägen. Es geht also um eine Imaginationsgeschichte des Medialen. Und sie ist es, die in dem geplanten Buch in Angriff genommen wird. Die einzelnen Kapitel behandeln mediale Konstellationen und Szenarien, die für das abendländische Imaginäre bestimmend geworden sind: von Moses, der auf dem Sinai die Gesetzestafeln empfängt, über den Höhlenbewohner, dessen Erfahrung sich bei Platon als medialer Schein entpuppt, zu Narcissus und Echo, in denen die Heterogenität von Stimme und Spiegel zum Ausdruck kommt, dann den mittelalterlichen Formen der Ekphrasis und der Körperschrift hin zu entscheidenden Momenten, an denen die Neuzeit mediale Differenzen begründet: diejenige von Text und Bild in Lessings Laokoon oder diejenige zwischen dem spiritistischen Medium und dem technischen Apparat in Wienes Caligari. Beabsichtigt ist, aus diesem Spektrum in den Göttinger Monaten die mittelalterlichen Teile auszuarbeiten: zur Gestalt des Sängers in Bedas Kirchengeschichte, der Rolle der Stigmata in Bonaventuras Franziskusvita und dem Bild des Allessehenden in Cusanus’ De visione dei.