Prof. Dr. Stefan Kaufmann: Forschungsprojekt

Möglichkeit und Zeit im Spiegel der Sprache

Ungewissheit und das Vergehen der Zeit gehören zu den grundlegendsten und allgegenwärtigsten Aspekten des menschlichen Lebens. Wir ziehen Schlussfolgerungen aus unverlässlichen Anhaltspunkten, revidieren unsere Annahmen angesichts neuer Informationen und gründen Pläne und Entscheidungen auf Vermutungen über die wahrscheinlichen Auswirkungen unserer Handlungen. Wir sprechen auch über Wissen und Ungewissheit, Vergangenheit und Zukunft, Vermutungen und die Fakten, auf die sie sich stützen. Sprecher aller Sprachen haben Mittel und Wege, um verschiedene Grade von Gewissheit und Spekulativität auszudrücken (modaler Diskurs), sowie um Ereignisse relativ zueinander und zum Zeitpunkt der jeweiligen Äußerung zeitlich zu lokalisieren (temporaler Diskurs). Typische Beispiele für modale Ausdrucksmittel sind Konditionalsätze und Wörter wie ‚müssen’, ‚können’ und ‚wahrscheinlich’. Zeitformen (z. B. Präteritum und Futur) und Aspektformen (z. B. Perfekt und die englische Verlaufsform) sind typische Beispiele für temporale Ausdrucksmittel. Die Erforschung modaler und temporaler Ausdrücke ist weit über das rein linguistische Interesse hinaus gewinnbringend, denn diese Phänomene spiegeln eine ganze Reihe nicht-sprachlicher Begriffe wider. Dazu gehören beispielsweise Kausalität, (Nicht-)Determinismus, das Verhältnis von subjektiver Ungewissheit zu objektiver Wahrscheinlichkeit, (wechselseitig) geteiltes Wissen und gemeinsame Hintergrundannahmen, sowie die Ontologie von Zuständen und Ereignissen. Diese Begriffe sind für zahlreiche Disziplinen von Interesse, einschließlich Philosophie, Psychologie und Künstliche Intelligenz. Ziel meines Forschungsvorhabens ist es, unser Verständnis der Bedeutung und Benutzung modaler und temporaler Ausdrücke, der Denkprozesse, die an ihrer Interpretation beteiligt sind, und ihrer semantischen Wechselwirkungen miteinander und mit anderen grammatischen Kategorien zu vertiefen. Sowohl die außersprachlichen Begriffe, die modalem und temporalem Diskurs zugrunde liegen, als auch die verwendeten sprachlichen Ausdrücke beeinflussen sich gegenseitig auf vielfältige Art und Weise. So spiegelt sich zum Beispiel in unseren Aussagen darüber, was in der Vergangenheit möglich war, der Zusammenhang zwischen Wahrscheinlichkeit und kausalen Zusammenhängen wider. Temporalformen, die normalerweise auf andere Zeiten verweisen, werden eingesetzt, um alternative »mögliche Welten« zu beschreiben. Ähnliche Wechselwirkungen zwischen temporalen und modalen Ausdrücken gibt es in vielen nicht miteinander verwandten Sprachen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Manifestation solcher Wechselwirkungen liefern wertvolle Hinweise auf kognitive Universalien.