Download als PDF

  • Programm
  • Abstracts


    Für genauere Informationen bitte auf die jeweiligen Vorträge klicken





  • Freitag 17.09.10







    Raum: TO.13x


    Raum: TO.13x


    14:00 - 14:30




    Eröffnung






    14:30 - 15:15


    Panel 1:

    Kollektive Identitätskonstruktion


    Meret Fehlmann: Kreta als imaginativer Ort des Kultes der Grossen Göttin



    Panel 2: Transformationsprozesse und religiöse Auseinandersetzungen


    Sabine Jagodzinski: Das Gedächtnis der Dinge. Religiöse Aufladung von Relikten aus den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert


    15:15 - 16:00



    Bernd-Christian Otto: Kontinuität und Konstruktivität einer selbstreferentiell-„magischen“ Tradition



    Ranja Knöbl: Konservierender Wissensspeicher und Dokument religiöser Auseinandersetzungen: Stobaios’ Anthologion im Kontext seiner Zeit


    16:00 - 16:30




    Pause

    16:30 - 17:15


    Lida Froriep: Die Bedeutung der „Heimatkirche“ in der Identitätsbildung der Siebenbürger Sachsen in postkommunistischer Zeit


    Ricarda Stegmann/

    Ismail Warscheid:

    Transformationen und Kontinuitäten in Praxis und Lehre des Maghribinischen Sufismus vom 16.-21. Jahrhundert


    17:15 - 18:00



    Andreas Müller: Das Hilfskomitee – Zwischen Integration und Erinnerung



    18:00 - 18:30




    Pause

    18:30 - 19:15


    Beate Löffler: Das Fremde und das Eigene und die Konstruktion christlicher Identität in Japan


    Melanie Hallensleben: Die Konstruktion jüdischer Identitäten in Neureligiösen Bewegungen am Beispiel der Gemeinschaft Universelles Leben.





    Samstag 18.09.10







    Raum: TO.13x


    Raum: TO.13x





    09:00 - 09:45



    Panel 3:
    Biographische (Dis-)Kontinuitäten: Migration...


    Marina Jaciuk: Religiöse Erinnerung in der Konstruktion erzählter Biographien lateinamerikanischer Migranten



    Panel 4:
    Technologie



    Jonas Richter: „Die Götter waren Astronauten!“ Transformation und Integration von Mythen in ein technologisches Weltbild


    09:45 - 10:30



    Stefanie Scherr: Migrationserinnerung der Altgläubigen Gemeinde Australiens



    Eva Dotterweich: Tradition und Innovation in der zeitgenössischen Verehrung des hl. Christophorus


    10:30 - 11:00




    Pause




    11:00 - 11:45


    ...und Konversion


    René Gründer: Zur Konstruktion religiöser Erinnerungskultur(en) im Neopaganismus


    Panel 5: Todesgedenken


    Nicole Sachmerda-Schulz: Erinnerungskultur auf anonymen Grabstätten


    11:45 - 12:30



    Melanie Möller: Transformation biographischer Erinnerung beim „Sektenausstieg“



    Ulrike Wels: „Der Tempel des Todes“. Transformationen literarischer Architekturmodelle in Europa – religiöse Konnotationen eines Begräbnisgedichtes


    12:30 - 13:30




    Mittagspause


    13:30 - 14:30




    AK Nachwuchs: Wahl der AK-SprecherInnen







    14:30 - 15:15


    Panel 6:

    Geschichtskonzepte


    Agnieszka Gąsior: Geschichtskonzepte und visuelle Strategien im Kontext der Marienverehrung in Polen nach 1989


    Panel 7:

    Ritus, (Re)Präsentation und Politik



    Sabine Reichert: Zur Interpretation städtischer Gedächtnisprozessionen


    15:15 - 16:00



    Ramona Wöllner: Geschichte vs. Metageschichte? Geschichte als Mittel der eigenen Identitätsfindung im Prozess der Emanzipation und Rechtfertigung in der Geschichte eines nicht-jüdischen Staates



    Gunnar Dumke: Der dynastische Herrscherkult der Ptolemäer: Die bifokale Gestaltung religiöser Erinnerung


    16:00 - 16:15




    Pause

    16:15 - 17:00


    Oleksandr Svyetlov: Memories of Galicia: the role of the Ukrainian Greek-Catholic Church


    Peter Itzen: „The Writing is on the Wall“: Die Krise der 1970er Jahre und die Church of England




    Abschluss der Tagung








    Abstracts



    Panel 1: Kollektive Identitätskonstruktionen



    Meret Fehlmann: Kreta als imaginativer Ort des Kultes der Großen Göttin

    Esoterische und/oder feministische Kreise verstehen das bronzezeitliche Kreta als matriarchale Gesellschaft – im religiösen Bereich durch den Kult einer Grossen Göttin charakterisiert. So werden „Goddess Pilgrimages“ nach Kreta – vor allem Knossos – als angenommenem Kultort der Grossen Göttin angeboten.

    Eine Deutung des bronzezeitlichen Kretas als matriarchal ist seit 1850 verbreitet und wurde durch archäologische Funde bzw. deren Interpretation vertieft. Vor allem Arthur Evans’ Ausgrabung von Knossos und seine Restaurierung/Rekonstruktion der Anlage nimmt eine zentrale Bedeutung ein bei der Verfestigung dieses Deutungsmusters. Evans imaginierte das minoische Kreta als Paradies, geprägt durch friedliches Zusammenleben, Naturverbundenheit, eine hohe Sozialstellung der Frau und einen monotheistischen Kult der Grossen Göttin.

    Zu den wichtigsten Überlieferungsträgern zählen Bücher, die die imaginierte Vergangenheit perpetuieren: So Robert Graves, dem eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des Kultes der Grossen Göttin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zukam, in seinem utopischen Roman „Seven Days in New Crete“ (1949), der von der Wiederkehr der Göttin und ihrer Kultur in Kreta nach einem Atomkrieg handelt und der skizzierten Vorstellung der kretischen Vergangenheit folgt. Ein aktuelleres Beispiel ist Carol P. Christs „Odyssey with the Goddess“ (1995), das die spirituelle Bedeutung Kretas als Erinnerungsort der matriarchalen, der Gegenwart überlegenen Vergangenheit feiert.

    Trotz neueren, archäologischen Funden, die dem Bild des bronzezeitlichen Kretas als Hort des Friedens widersprechen, besteht eine Kontinuitätslinie der Deutungsmuster des bronzezeitlichen Kretas von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein.



    Bernd-Christian Otto: Kontinuität und Konstruktivität
    einer selbstreferentiell-„magischen“ Tradition

    „Ich, als aller Magier Stammvater, Hermês, der Altehrwürdige, der Isis Vater“ – Überlegungen zur Kontinuität und Konstruktivität einer selbstreferentiell-„magischen“ Tradition.
    Mit der Problematik gebrochener Überlieferungen musste im selbstreferentiellen Magiediskurs der letzten etwa zwei Jahrtausende konstant umgegangen werden. Zwar lassen sich innenperspektivisch-„magische“ Texte seit der graeco-ägyptischen Spätantike rekonstruieren; von einem „zusammenhängenden“ Diskurs kann aber keine Rede sein – die überlieferten Texte sind vielmehr durch sehr unterschiedliche Trägergruppen, kulturelle Rahmenbedingungen und religiös-rituelle Stoßrichtungen gekennzeichnet. Gleichwohl lässt sich zu allen Zeiten – beginnend bei spätantiken „Magiern“, bis hin zu rezenten Internet-Autoren – beobachten, dass der unüberwindbare Devianzcharakter selbstreferentiell-„magischer“ Identität immer zur Rückbesinnung auf ein größeres Kollektiv zwang. Hierdurch sollte wohl nicht nur eine vermeintliche „Authentizität“ des Beschriebenen suggeriert und das eigene Denken und Handeln legitimiert, sondern ein auch „Magier“ antreibendes Anschlussmotiv (an eine religiöse Gemeinschaft) befriedigt werden. Internet-Rhetoriken wie „Diese Rituale haben wir jahrtausende alten Abschriften entnommen“ lassen sich daher in abgewandelter Form auch in zahlreichen historischen Texten selbstreferentieller „Magier“ finden. Das Bemühen, aus offenkundig hochdifferenten und mehrfach „gebrochenen“ Textschichten eine vermeintlich einheitliche, tatsächlich aber hochgradig konstruierte Tradition zu erschließen, stellt insofern ein konstantes Motiv im selbstreferentiellen Magiediskurs des Abendlands dar. Im intendierten Beitrag soll diese irritierende Doppelgestalt des vermeintlichen Gedächtnisses selbstreferentieller „Magier“ – also ihr übersteigertes und dadurch höchst kreativ-konstruktives Traditionsbewusstsein – an einer Reihe charakteristischer Textbeispiele diachron illustriert werden (Spätantike, Hochmittelalter, Frühe Neuzeit, 19. und 21. Jahrhundert). Die erarbeiteten Befunde können dann im Rahmen des auch in vielen anderen religiösen Kontexten beobachtbaren Phänomens der „invented tradition“ diskutiert werden.



    Lida Froriep: Die Bedeutung der „Heimatkirche“ in der Identitätsbildung
    der Siebenbürger Sachsen in postkommunistischer Zeit

    Mein Promotionsprojekt befasst sich mit religiöser Identitätsbildung am Beispiel der Siebenbürger Sachsen, einer deutschen Minderheit, die in Rumänien beheimatet war. Religiöse, kulturelle und ethnische Identität waren lange Zeit gleichgesetzt und Abweichungen davon schwer vorstellbar – paraphrasiert als: „Wir sind Deutsche, wir sind Sachsen, wir sind Lutheraner. Andere Lutheraner sind keine echten Lutheraner, jedenfalls nicht wie wir.“
    Während in früheren Zeiten die lutherische Kirche einen unverzichtbaren Faktor in der Identitätsbildung dieser Gruppe darstellte und Kirche/ Gemeinde unhinterfragt als Garanten für Gruppenkohärenz und Kontinuität verstanden wurden, ist dies – in Folge der politischen Veränderungen seit 1989 und der massenhaften Auswanderung nach Österreich und Deutschland – nicht mehr möglich. Bis heute aber werden von kirchlichen und offiziellen Vertretern der Sachsen auch in Deutschland die „Heimatkirche“, der evangelische Glaube und deren Werte als selbstverständliches Identitätsmoment der Sachsen in und außerhalb Siebenbürgens konstruiert. Die aktiv betriebene „Suche nach der neuen Identität“ nach der politischen Wende ist dabei offenbar völlig selbstverständlich mit der „Heimatkirche“ verknüpft.
    Daran anschließend geht es im empirischen Teil meiner Arbeit um die Frage, ob sich diese Verknüpfung auf der Ebene der Einzelnen nachweisen lässt und welche Transformationsprozesse gegebenenfalls stattgefunden haben. Im Fokus ist speziell die jüngere Generation, die größtenteils nicht einmal mehr in Siebenbürgen lebt, aber dennoch als „Zukunft der Gemeinschaft“ konstruiert wird. Welche Rolle spielt die Kirche im Leben dieser Generation? Welches Wissen der im kollektiven Gedächtnis überlieferten Narrationen (beispielsweise als Gründungsmythen oder „Heldentaten“ der Sachsen) lässt sich nachweisen? Sind diese Konstruktionen für den Einzelnen von gegenwärtiger oder gar zukünftiger Bedeutung oder lediglich Erinnerungen und Geschichte(n)?




    Andreas Müller: Das Hilfskomitee – Zwischen Integration und Erinnerung

    Durch Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg „sind auch die Kirchen mit vertrieben worden“, wie Friedrich Spiegel-Schmidt 1959 schrieb. Infolgedessen bildeten sich ab 1946 in den Westzonen aus den Reihen der jeweiligen vertriebenen Landeskirchen sogenannte Hilfskomitees; so auch das Hilfskomitee für die Evangelische Landeskirche aus Jugoslawien, mit dem sich meine Arbeit schwerpunktmäßig befasst. Aufgabe dieses wie auch der anderen Hilfskomitees war laut Beauftragung durch die EKD von 1947 die Vertretung der ihm zugehörigen Pfarrer und Gemeindeglieder gegenüber den Landeskirchen und die kirchliche Versorgung der ihm zugehörigen Gemeinden. Das Hilfskomitee sollte darüber hinaus jedoch auch die Integration der Vertriebenen in die ansässigen Landeskirchen erleichtern.

    Durch die Geschichte des Hilfskomitees zog sich durch diese doppelte Aufgabenstellung eine dauernde Ambivalenz zwischen den Polen ‚Integrationshilfe’ und ‚Erinnerungsinstanz’. Einerseits ist das Wirken des Hilfskomitees bei der Integration der Jugoslawiendeutschen unübersehbar. Andererseits manifestierte sich schon sehr früh die Tendenz zur Erinnerungsinstanz. Das Hilfskomitee veranstaltete ab den späten 1940er-Jahren jährlich mehrere sogenannte heimatkirchliche Treffen in verschiedenen Städten, zu denen meist mehrere hundert Jugoslawiendeutsche kamen. Im Rahmen dieser Treffen wurden von jugoslawiendeutschen Pfarrern Gottesdienste gehalten, die der in Jugoslawien praktizierten Liturgie folgten. Das Rahmenprogramm enthielt häufig jugoslawiendeutsche Musikgruppen und Lichtbildvorführungen mit Bildern „aus der alten Heimat“. Diese heimatkirchlichen Treffen lediglich als Folklore zu betrachten, würde zu kurz greifen, da gerade solche, auf frühere Verhältnisse zurückgreifende Gemeinschaftserlebnisse für die Teilnehmer identitätsbildend bzw. identitätsstabilisierend wirkten.

    Mein Tagungsbeitrag soll dieses Spannungsverhältnis zwischen Integration und Erinnerung anhand der Hilfskomitees, zu deren Rolle und Funktion bisher noch kaum Forschungsergebnisse vorliegen, näher untersuchen und vorstellen.



    Beate Löffler: Das Fremde und das Eigene und
    die Konstruktion christlicher Identität in Japan

    Seit dem Wiedereinsetzen der Mission während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich das Christentum in Japan zu einer gesellschaftlich akzeptierten Minderheitenreligion entwickelt. Die ambivalente Wahrnehmung des Christentums als modern und moralisch hoch stehend, aber zugleich auch un-japanisch setzte die Gläubigen jedoch einem hohen sozialen Druck aus, der sich in der Erinnerungspraxis der japanischen Christen niederschlägt.

    Basierend auf einem Promotionsprojekt zur Akkulturation christlicher Architektur und Symbolik in Japan, wird der Vortrag die grundlegenden Mechanismen der Identitätskonstruktion der japanischen Gemeinden nachzeichnen. Der Focus liegt dabei auf dem Rückbezug auf die Gründergenerationen sowie auf der Abgrenzung gegenüber anderen Glaubensbekenntnissen. Es wird gezeigt, wie das Bemühen um eine Anerkennung als eigenständige Religionsgruppe zu einem weitgehend homogenen Erscheinungsbild der christlichen Kirchenbauten führte, während zugleich die denominelle Heterogenität eine mentale Vereinzelung der Gemeinden nach sich zog.





    Panel 2: Transformationsprozesse und religiöse Auseinandersetzungen



    Sabine Jagodzinski: Das Gedächtnis der Dinge. Religiöse Aufladung von Relikten aus den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert (Arbeitstitel)

    Im Jahr 1620 vermachte Krongroßhetman Stanisław Żółkiewski in seinem letzten Brief aus den Türkenkriegen seinem Sohn einen türkisbesetzten Pallasch mit dem Wunsch, ihn „an den Nacken der Heiden zu üben und das Blut seines Vaters zu rächen“. Der Pallasch gelangte dann ins Paulinerkloster in Tschenstochau, einem der berühmtesten Wallfahrtsorte Polens mit einer großen Sammlung solcher Votivgaben. Als Żółkiewskis Urenkel, der polnische König Jan III. Sobieski, 1683 auf dem Feldzug gegen die Osmanen nach Wien dort Halt machte, überreichten ihm die Pauliner, die sich der historischen Bedeutung der Votivgabe bewusst waren, diese Waffe.

    Nach erfolgreicher Schlacht kam es zu noch radikaleren Sinnstiftungen als bei solch einem militärischen Erbstück, nämlich, wenn Beutestücke aus dem Besitz des Feindes (um-)genutzt wurden. Osmanische Rang- und Ehrenzeichen wie die sog. Rossschweife waren besonders begehrt und wurden in einem Akt der Umdeutung auch zur eigenen Repräsentation verwandt.

    Eine andere wichtige Facette der Transformation von Trophäen stellt das Stiftungswesen dar, wie z.B. die Stiftung des von Jan III. Sobieski erbeuteten Steigbügels des osmanischen Großwesirs Kara Mustafa an die Krakauer Kathedrale oder – als extremer Kontextwandel – die Sendung eroberter islamisch-osmanischer Banner, insbesondere der vermeintlichen „Fahne des Propheten“ an den Papst.

    Wie sich zeigt, war das Schlachtengedenken der Frühen Neuzeit – insbesondere gegen den sog. „Erbfeind der Christenheit“, das Osmanische Reich – wie überall in Europa auch in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik untrennbar mit einer religiösen Komponente verbunden, sei es als Motivation oder Legitimation, zu Zwecken der Propaganda oder Repräsentation.

    Ich möchte anhand einiger Beispiele, wie den oben genannten, Vorgänge und Strategien der religiösen Konnotierung materieller Erinnerungsträger, insbesondere Waffen und Kriegstrophäen, vorstellen. Sie werden u.a. danach befragt: Wie wird die Erinnerung konstruiert? Wird die (religiöse) Vorgeschichte der Dinge einbezogen, uminterpretiert, ignoriert? Verortetet sich der Kämpfer – und insbesondere der kämpfende König – als christlicher Krieger oder stand eine andere Motivation im Vordergrund?

    Hinsichtlich der Sammelns und Präsentierens berührt der Gegenstand auch das Feld der öffentlichen Wahrnehmung bzw. Wirkung und lässt ggfs. Ausblicke auf die Wandlungen im 18. und 19. Jahrhundert zu.



    Ranja Knöbl: Konservierender Wissensspeicher und Dokument religiöser Auseinandersetzungen: Stobaios’ Anthologion im Kontext seiner Zeit

    Erinnern, Vergessen und dynamischer Wandel spielen in Stobaios’ Anthologion, einer Sammlung zahlreicher Zitate paganer griechischsprachiger Autoren aus dem 5. Jh. n. Chr., in dreifacher Hinsicht eine zentrale Rolle: sie werden explizit thematisiert und bedingen paradigmatisch die Anordnung wie auch die soziale Funktion des Werkes. Es gilt, bedrohtes ethisches Wissen für die Nachwelt zu konservieren. Die für die Bewahrung solchen Wissens relevanten Konstruktions- und Transformationsmechanismen sind dabei – so die meinem Vortrag zugrunde liegende Arbeitshypothese – aus dem strukturellen Gesamtaufbau und der thematischen Anordnung der Zitate und Zitatcluster innerhalb einzelner Kapitel des Anthologion hinsichtlich seiner sozialhistorischen Funktion rekonstruierbar. Das Anthologion bezeugt zugleich für Kontinuität und radikalen Wandel. Kontinuität insofern, als es Positionen antiker Anthropologie durch die Zitation entsprechender Autoren zu bewahren sucht, Wandel insofern, als das Medium der rein paganen Spruchsammlung literarhistorisch in der politisch so prekären Situation des 5. Jh. n.Chr. an einen Schlusspunkt gekommen zu sein scheint.

    Stobaios’ Anthologion steht in seiner konsequent paganen Ausrichtung in einer Zeit der akuten Bedrohung nichtchristlicher Gruppen und Individuen sichtbar im Spannungsfeld von Religion, kollektivem Gedächtnis und Transformation. Daraus ergeben sich wichtige Fragen für eine mögliche historische Kontextualisierung des Werkes, wie z.B.: Welche transformativen Prozesse lassen sich aus den im Anthologion enthaltenen und thematisierten Überschneidungen von Wissen und Erinnerung rekonstruieren? Welche vermeintlich außerreligiösen sozialen Kräfte (wie etwa ökonomische und politische Machtinteressen) bewirken nachhaltige Schwerpunktverlagerungen von Bildungs- und Wissensinhalten im Römischen Reich des 5. Jh. n. Chr.? Inwiefern beeinflusste das spannungsgeladene politische Umfeld zur Zeit der Produktion des Anthologion dessen Rezeption bis in die Gegenwart?



    Ricarda Stegmann/ Ismail Warscheid: Transformationen und Kontinuitäten in Lehre und Praxis des maghribinischen Sufismus vom 16.-21. Jahrhundert

    In diesem Vortrag sollen Transformationen und Kontinuitäten in der religiösen Praxis und Lehre von Sufibruderschaften im Maghreb untersucht und in ein Spannungsverhältnis zu ihrem Anspruch unveränderter Tradierung des prophetischen Erbes gesetzt werden. Hierzu sollen die gesellschaftliche Position des Sufismus und die sich vor diesem Hintergrund ausprägenden sufistischen Praktiken des neuzeitlichen Maghreb (Teil 1) dem Selbstverständnis algerischer Sufigelehrter des 20. und 21. Jahrhunderts (Teil 2) gegenübergestellt werden. Am Beispiel des Sufismus im Maghreb soll auf diese Weise aufgezeigt werden, wie sich Formen und Inhalte religiöser Praxis durch soziokulturelle und politische Einflüsse radikal verändern und dem kollektiven Gedächtnis gleichzeitig durch das Fortbestehen typischer Schlüsselelemente eine Kontinuität suggerieren, die Brüche und Transformationen ausblendet.

    Teil 1(Ismail Warscheid)

    Seit dem Spätmittalter und mindestens bis Ende des 19. Jahrhunderts spielen der Sufismus (al-tassawuf) und seine verschiedenen kulturellen Ausprägungen eine fundamentale Rolle im religiösen Leben des Maghreb. Charismatische Heilige, Asketen und Gnostiker sind Hauptakteure einer popularisierten Mystik, die sich in erster Linie als vertiefende Ergänzung zur vom Korpus der Rechtsgelehrten (fuqahā’) repräsentierten, exoterischen Praxis des Islams versteht. Zahlreich sind jedoch die Brücken zwischen innerer (bātin) und äußerer (zāhir) Dimension der Religion. Es zählt in der Tat zu den Besonderheiten der religiösen Figuration des neuzeitlichen sunnitischen Islams (16.-19. Jahrhundert), dass der Sufismus - im Gegensatz zur christlichen Mystik derselben Epoche - im Großen und Ganzen die Anerkennung der muslimischen Orthodoxie genoß. Vor allem im Maghreb bildeten Sufi und Rechtsgelehrter kein Paar unversöhnlicher Widersacher. Beide Figuren sind eher zu verstehen als mögliche Formen des sozialkulturellen Profils eines homme de religion, dessen interne Kohärenz sich auf einer allen Akteuren gemeinsamen Referenz auf die schriftliche Tradition des Islams begründet. Vor allem aufgrund des konformistischen Festhaltens an der koranischen Offenbarung und dem prophetischen Modell als den beiden expliziten Quellen des Islam, um einen von Jacques Berque geprägten Begriff zu verwenden, bot die Laufbahn eines Juristen, eines Mystikers oder auch die eines exzentrischen Heiligen (majdhūb) in gleicher Weise die Möglichkeit, sich als Mediator zwischen Gott und den Menschen sozial zu profilieren. In einer Zeit, in der fast ausschließlich die Beziehung zum Sakralen die gelehrten Geister beschäftigte, gelang es dem Sufismus, sich einerseits als Disziplin im curriculum der traditionellen islamischen Wissenschaften (‘ilm, Pl. ‘ulûm) durchzusetzen, andererseits Rahmen und Ausdrucksformen religiöser Praxis maßgeblich zu gestalten und zu beeinflussen. Jurist und Sufi erscheinen aus diesem Blickwinkel als eng verbundene Hauptakteure im Bestreben der maghrebinischen Gesellschaften, durch aktive Assimilation der schriftlichen Tradition des Islam eine ideelle Verbindung zur Gründerzeit des Propheten herzustellen, ihre Erinnerung im kollektiven Gedächtnis aufrechtzuerhalten und so die existierende sozial-normative Ordnung sakral zu legitimieren.

    Teil 2 (Ricarda Stegmann)

    Den Lehren und Praktiken im neuzeitlichen Maghreb wird in einem zweiten Teil das Selbstverständnis von algerischen Sufigelehrten im 20. und 21. Jahrhundert gegenübergestellt. Zunächst soll auf Kontinuitäten zu den oben beschriebenen neuzeitlichen Konstellationen im Maghreb hingewiesen werden: Hierzu gehören beispielsweise die Betonung der engen Verwobenheit innerer Haltung und exoterischer Praxis des Islam oder die sich ergänzenden Wege, auf denen die Erinnerung an die Botschaft des Propheten aufrecht erhalten wird. Die Befolgung des islamischen Rechts (sharia), durch die die dem Propheten offenbarten Prinzipien für eine gerechte Gesellschaftsordnung umgesetzt werden sollen, wird als Pflicht für jeden Gläubigen angesehen. Der Sufismus wird wie schon im neuzeitlichen Maghreb als Ergänzung hierzu verstanden, die nicht jedem zugänglich, dennoch aber Voraussetzung für ein vollständiges Verstehen der islamischen Botschaft sei. Diejenigen, die unter der Leitung eines Sheikh den Weg des Sufismus gehen, streben eine innere Haltung an, die der des Propheten Mohammed und seiner Gefährten entspricht. Auf diese Weise zeigen sie eine über die Befolgung der Glaubenssätze und Rechtsauslegungen hinausgehende und aus ihrer Sicht vollständigere Möglichkeit der Erinnerung und Aufrechterhaltung religiöser Botschaft auf, die jenseits rationalen Denkens gelagert ist. Während Sufigelehrte die speziellen Praktiken des tasawwuf weiterhin als Bestandteil der Orthodoxie ansehen, so haben der soziale Status und mit ihm auch Formen und Inhalte sufistischer Religiosität jedoch seit dem frühen 20. Jahrhundert radikale Veränderungen erfahren. Die Ende des 19. Jahrhunderts in Ägypten entstandene islamische Reformbewegung gewann seit den 1930er Jahren in Algerien an Einfluss und bekämpfte viele in ihren Augen unorthodoxe oder gar unislamische Praktiken der Sufibruderschaften. Die Verfolgung dieser Bruderschaften durch Anhänger des Reformislam sowie der ihnen nach der Unabhängigkeit Algeriens entgegengebrachte Vorwurf, während der Kolonialherrschaft mit den Franzosen kollaboriert zu haben, führten zu einer radikalen Marginalisierung des bis dahin als eigentlicher Träger der Orthodoxie fungierenden Sufismus.

    Die Transformationen in Lehre und Praxis, die aus der nun entstandenen Verteidigungshaltung der Sufigelehrten resultierten, sollen geschildert und mit dem Selbstverständnis der Gelehrten konfrontiert werden, die sich durch den exoterischen Weg des Rechts (sharia) und den esoterischen Weg des Sufismus (tasawwuf) eine vor Änderungen geschützte Weitergabe der Botschaft des Islam versprechen.



    Melanie Hallensleben: Die Konstruktion jüdischer Identitäten in Neureligiösen Bewegungen am Beispiel der Gemeinschaft Universelles Leben

    „Wir sind das neue Volk Israel“ – mit solchen oder ähnlichen Stellungnahmen bezeichnen sich Neureligiöse Bewegungen wie beispielsweise das Universelle Leben als die wahren und endgültigen Jüdinnen und Juden. Sie stellen sich somit in die Traditionslinie der jüdischen Religionsgemeinschaft und verdrängen sie von der Stelle, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Legitimiert wird dieser Anspruch mittels verschiedener Neudeutungen der jüdisch-christlichen Bibel sowie diverser Neuoffenbarungen der Prophetin Gabriele Wittek.

    Eng mit diesem jüdischen Selbstbild verbunden ist eine Abwertung des Judentums. Dem entsprechend wird der Untergang des Staates Israel als Folge einer andauernden unbelehrbaren Haltung der Juden prophezeit, und die Schicksalsgeschichte – inklusive der Shoa – wird als gerechte Strafe für das Nichtanerkennen Jesu gedeutet. Darüber hinaus werden gängige Stereotype über den halsstarrig, eigennützig und nach Geld und Ruhm strebenden Juden reproduziert.




    Panel 3: Biographische (Dis-)Kontinuitäten: Migration und Konversion



    Marina Jaciuk: Religiöse Erinnerung in der Konstruktion
    erzählter Biographien lateinamerikanischer Migranten

    Der Migrationprozess bedeutet immer eine Restrukturierung von Lebenswelt. In der Fremde sind Migranten stärker mit der eigenen Identität konfrontiert, nicht nur im individuellen sondern auch im kulturellen Sinne. Identitätsbildung ist dabei nicht nur ein auf die Gegenwart orientierter situativer Prozess: Sie verlangt nach dem Gegenüber, dem Anderen vor allem auch in Erinnerungen. Migranten (re)konstruieren eine persönliche, soziale und kulturelle Welt über die Gedächtnisleistung in den Erinnerungsgeschichten: auch wenn sie nicht immer der Realität entsprechen, der eigenen Lebensgeschichte verleihen sie dennoch Sinn. Mein Vortrag konzentriert sich auf erzählende Konstruktionen von Biographien lateinamerikanischer Migranten und die Rolle der Erinnerung an das Religiöse im Migrationsprozess. In diesem Kontext stellen sich dann bestimmte Fragen: Welche Bedeutung wird religiöser Erinnerung in der biographischen Konstruktion lateinamerikanischer Migranten beigemessen? Sind bestimmte „Leitlinien“ (Lehmann) des religiösen Erzählens und Erinnerns in den gesamten lebensgeschichtlichen Erzählungen festzustellen? Wie objektiviert und vergegenwärtigt sich religiöse Erinnerung in der Fremde? Wie wird religiöse Erinnerung im Alltag eingebettet? Erfüllt die Erinnerung an religiöse Erfahrungen andere soziale, außerreligiöse Funktionen? In wie weit trägt religiöse Erinnerung zur Konstruktion von kulturellen Identitäten der Latinos bei? Anhand narrativer Interviews mit lateinamerikanischen Migranten in Bayern wird nach Antworten zu diesen Fragen gesucht und dabei erste Ergebnisse meines Dissertationsprojekts zur „kulturellen Dynamik und Religion in einer mobilen Gesellschaft“ gezeigt.



    Stefanie Scherr: Migrationserinnerung der
    Altgläubigen Gemeinde Australiens

    Mit Fokus auf die Altglaeubigen Gemeinde Australiens wird sich dieser Beitrag auf religioese Erinnerungen konzentrieren, die im religioesen Gedaechtnis durch Rituale, Zeremonien und Gebraeuche vermittelt und erhalten werden. Als „performative Erinnerung“ halten sie sich nicht an einer verorteten Form des Gedenkens fest. Diese bewegte, veraenderbare Praxis des Erinnerns bietet Raum, die jahrhundertelange Migrationsgeschichte der Religionsgemeinschaft der Altglaeubigen einzuschliessen.

    Seit dem Schisma von 1666 versucht die Russisch Orthodoxe Altglaeubigen Kirche ihre religioesen Riten und einen traditionellen Lebensstil zu bewahren. Die Altglaeubigen blicken auf eine jahrhundertelange Geschichte von Flucht und Vertreibung zurueck. Diese Migrationsprozesse liessen eine transnationale Religionsgemeinschaft entstehen mit einer weltweit verstreuten Diaspora in Nord und Sued Amerkia, Australien und Neuseeland.
    Der Beitrag wird Lebensgeschichten von Altglaeubigen nutzen, deren Familien im fruehen 20. Jahrhundert von Russland nach Mandschurien und spaeter in den 1950ern und 60ern nach Australien gewandert sind. Diese Lebensgeschichten erzaehlen von einem Festhalten an und Wandel von religioesen Ritualen ueber historische Zeitraeume, sowie geographische und gesellschaftliche Grenzen hinweg. Gleichzeitig wird durch religioese Gedenkrituale und Praktiken eine kollektive und transkulturelle Altglaeubigen-Identitaet konstruiert, die in ihrer symbolisch-performativen Praxis untersucht wird.



    Rene Gründer: Zur Konstruktion religiöser
    Erinnerungskultur(en) im Neopaganismus

    Menschen, die sich im Laufe ihrer religiösen Sozialisation in mehr oder minder bewusster Entscheidung zu einer „Konversion“ in Richtung einer explizit ‚heidnischen’ Form neuer Religiosität entschließen, sehen sich vor zwei wesentlichen Aufgaben zur Plausibilisierung eines solchen Wechsels des eigenen religiösen Bezugssystems:
    Einerseits besteht die Notwendigkeit, die eigene (religiöse) Biografie sinnvoll auf das neue Glaubens- bzw. Überzeugungssystem zu beziehen und andererseits fordert die Annahme einer ‚neuheidnischen’ Identität zugleich die Einschreibung der eigenen Konversionserfahrung in den weiteren Horizont etablierter neopaganer Traditionsvorstellungen.
    Während die mittlerweile stark ausdifferenzierten neopaganen Strömungen für die zweite Aufgabe eine Reihe anschlussfähiger Traditionsmodelle entwickelten (von genetisch-erblicher Disposition für Religion über hermeneutische Modelle religiöser Mythenexegese bis hin zu psychologisch ausgerichteten Vorstellungen subjektiver Gnosis) sind die „religiösen Ablösungserzählungen“ vieler neuer Heiden erstaunlicherweise häufig durch Muster „spiritueller Kontinuität“ geprägt. Der „neue Glaube“ wird – anders als die religionstheoretische Maximalkontrastierung der (theologischen) Konzepte „Heide“ und „Rechtgläubiger“ nahe legt – gerade nicht als rigider Bruch mit einem, etwa in der Kindheit aufgezwungenen, Christentum verstanden, sondern eher als Emanzipationsprozess der eigenen (kontinuierlichen) Spiritualität gedeutet.
    >Mein Vortrag fragt auf der Grundlage der Befunde einer dreijährigen Feldstudie zu deutschen Asatru-Gruppen (germanisches Neuheidentum) nach dem Zusammenhang von kollektiver (gruppenbezogener) Konstruktion religiöser Tradition in neopaganen Gruppen seit etwa 1970 und dem wachsenden Bemühen ihrer Mitglieder, die eigene Neureligiosität als eine „Weiterentwicklung“ in Bezug auf zurückliegend erinnerte Religionserfahrungen zu verstehen. Die Abwendung von kollektivistischen und Hinwendung zu subjektzentrierten Formen der Plausibilisierung von Religiosität (auch: „spirituelle Gesellschaft“ i.S.v. Knoblauch 2009) zeitigt biografische Effekte, welche die Gültigkeit gängiger Konversionskonzepte letztlich in Frage stellen.



    Melanie Möller: „Der erinnerte Sektenausstieg“. Gedächtnislogik und Erinnerungsarbeit in publizierten Erfahrungs- und Aussteigerberichten

    Publizierte Erfahrungs- und Aussteigerberichte bieten eine besondere Form der Konversions- bzw. Dekonversionserzählung. Im Gegensatz zu mündlichen Erzählungen der Ereignisse unterliegt die Schriftform Erzählkonventionen, die nicht nur typisch für Konvertiten sind, sondern zudem durch publikationstechnische Aspekte vorgegeben werden (Lesbarkeit, Vermarktung, Orientierung am Zielpublikum etc.). Hierbei spielt die Rekonstruktion und Darstellung von Erinnerung eine zentrale Rolle. Um Authentizität zu beanspruchen und ggf. auch in unglaubwürdig wirkenden Szenarien Glaubwürdigkeit zu erlangen, verwenden die Autoren der Erfahrungsberichte bestimmte Strategien, um ihre Erinnerungen so darzustellen, dass sie konsistent wirken. Der geplante Vortrag widmet sich zum einen der ‚Erinnerungslogik‘ innerhalb der Erfahrungsberichte, zum anderen der Erinnerungsarbeit, wie sie sich in Interviews mit Autoren widerspiegelt. Hierbei lassen sich deutliche Parallelen zwischen dem jeweiligen Umgang der Autoren mit Erinnerung und der religiösen Gemeinschaft, aus der sie „ausgestiegen“ sind, feststellen. Die religiöse Biographie ist somit geprägt von Erinnerungstransformationen, die nicht nur auf einem individuellen Umgang mit Gedächtnis basieren, sondern in direktem Zusammenhang mit den religiösen oder weltanschaulichen Erfahrungen stehen.




    Panel 4: Technologie



    Jonas Richter: „Die Götter waren Astronauten!“ Transformation
    und Integration von Mythen in ein technologisches Weltbild

    Sachbuchautoren wie z.B. Erich von Däniken propagieren ein neomythisches Weltbild, demzufolge Religionen aus einem Missverständnis entstanden seien: In grauer Vorzeit hätten Außerirdische unseren Planeten besucht. Die primitiven Menschen hätten sie wegen ihrer technologischen Überlegenheit für Götter gehalten und verehrt. Die grenzwissenschaftliche Forschung zu dieser Spekulation nennt sich Präastronautik oder Paläo-SETI; die Grundidee ist – nicht zuletzt dank populärer fiktionaler Umsetzungen wie z.B. Stargate oder Indiana Jones – in weiten Kreisen bekannt.
    Der Vortrag stellt die interpretativen Mechanismen der Präastronautik vor, mit denen aus alten Göttergeschichten moderne SciFi-Mythen werden. Durch den ufologischen Interpretationsrahmen gelingt es erstens, den alten Überlieferungen neue Bedeutung in einem technologiegeprägten Weltbild zu geben, und zweitens durch globale Betrachtungen für Pazifismus und eine vereinte Menschheit zu plädieren. Faszinierend ist der Vergleich zwischen dem grenzwissenschaftlichen Weltbild, das von seinen Anhänger dezidiert als nicht-religiös dargestellt wird, und explizit religiösen Umsetzungen des präastronautischen Geschichtsbildes, wie z.B. in der UFO-Religion des Propheten Rael.



    Eva Dotterweich: Tradition und Innovation in der zeitgenössischen Verehrung des heiligen Christophorus

    In der Verehrung des hl. Christophorus hat im 20. Jahrhundert ein Bedeutungswandel stattgefunden, der mit der Erweiterung seines Patronats zusammenhängt. Mit der beginnenden Motorisierung des Straßenverkehrs wurde Christophorus erneut zum viel beachteten Nothelfer. Anders als im Mittelalter steht nicht mehr die Angst vor einem Tod im Stand der Sünde sondern vielmehr die Angst vor einem plötzlichen Tod im Allgemeinen im Vordergrund; der Zweck der Verehrung und des Gedächtnisses an den Heiligen hat sich geändert.

    Das Gedenken an den hl. Christophorus findet in zwei unterschiedlichen Bereichen statt, einem privaten und einem kirchlich-institutionellen. Der kirchliche Bereich folgt strengen Regeln. Das Direktorium, ein Festkalender der Diözesen, regelt die Gedenktage und damit die Verehrung. Die Heiligen dienen als Vorbild für das Leben der Gläubigen.

    Im lebensweltlichen Alltag steht dagegen eher der Wunsch nach einem persönlichen Schutzpatron im Vordergrund der Verehrung.

    Eine Schwierigkeit beim Gedenken an den Heiligen ist die mangelhafte Quellenlage zur historischen Persönlichkeit, deren Existenz angezweifelt werden darf. Die Verehrung beruht auf Legenden und der Verbildlichung des Namens Christophorus, des Christus-Trägers. In jüngster Vergangenheit lassen sich neue Überlieferungsträger nachweisen wie Darstellungen des Heiligen als Hintergrundbild auf dem Handy oder ein Reisesegen als Video via Internet sowie ein Online-Fürbittbuch u.a.m.

    Auffällig im Kult des Heiligen ist der Wunsch der Gläubigen nach einem materiell fassbaren Objekt, das dem Betrachter sowohl als Vergewisserung des himmlischen Beistandes dient als auch als Mahnung zum „richtigen“ Verhalten.

    Der Katholizismus bietet hier den Rahmen für das Gedächtnis an einen Heiligen, der über sein Bild repräsentiert wird. Transformationen ereignen sich über zeitgeistige Strömungen, die in Verbindung mit veränderten technologischen Bedingungen gesehen werden müssen.

    Die Christophorus-Verehrung bietet sich zur exemplarischen Untersuchung des religiösen Gedenkens an, da sich hier allgemeine Mechanismen der Innovation in einem Heiligen-Kult nachweisen lassen.




    Panel 5: Todesgedenken



    Nicole Sachmerda-Schulz: Erinnerungskultur auf anonymen Grabstätten

    Nach Halbwachs ist Totengedenken nur durch die kollektive Erinnerung der Gruppe möglich und bedarf der Zeichen und Symbole. Auch Assmann betont den Aspekt der Gemeinschaft: der Tote kann durch den Willen der Gruppe „weiter leben“, da sie ihn durch die Erinnerung als ein Mitglied der Gemeinschaft erhält. Durch die Erinnerung an den Toten wiederum vergewissert sich eine Gemeinschaft ihrer Identität.

    Nach ca. 500 Jahren der christlich geprägten namentlichen Grabstätte verändert sich unsere Bestattungskultur hin zu immer mehr anonymen Grabstätten. Die öffentliche bzw. kollektive Erinnerung an die Verstorbenen verlagert sich in die Privatsphäre. Trotz aller Kritik in den Medien und von Seiten der Kirchen steigt die Zahl der Anonymbestattungen in Deutschland seit den letzten Jahrzehnten stetig. Stellten anonyme Bestattungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine Ausnahme dar, die von den Kirchen scharf kritisiert und sanktioniert wurde, so werden heute in manchen Regionen sogar mehr als die Hälfte aller Beisetzungen anonym durchgeführt. Neben der anonymen Friedhofsbestattung etablieren sich derzeit auch neue anonyme Bestattungsformen wie Baumbestattung und Naturbestattung. Auf der anderen Seite gibt es zunehmend frei zugängliche Gedenkseiten für Verstorbene im Internet, auf denen die Angehörigen private Informationen zeigen und öffentliche Kondolenzbücher virtuell auslegen.

    Wie sind diese Veränderungen in die bisherige Gedächtniskultur einzuordnen? Welche Motive und (religiöse) Wertvorstellungen stehen hinter der Entscheidung für eine namenlose Grabstätte? Diesen und weiteren Fragen soll im Vortrag mittels aktueller Statistiken und Interviewergebnissen mit Personen, die über eine solche Bestattungsart im Voraus verfügt haben, aus religionssoziologischer Perspektive nachgegangen werden.



    Ulrike Wels: „Der Tempel des Todes“. Transformationen literarischer Architekturmodelle in Europa – religiöse Konnotationen eines Begräbnisgedichtes

    Der Vortrag von Ulrike Wels muss leider entfallen

    Das Motiv des Tempels des Todes erfuhr im 17. und 18. Jahrhundert in der europäischen Literatur vielfältige Verbreitung. Ausgehend von dem Gedicht „Le Temple de la mort“ (1633) des Franzosen Philippe Habert (1604-1637) wurde es 1695 von John Sheffield, Herzog von Buckingham und Normanby (1648-1721) ins Englische übertragen und 1698 von Christian Gryphius (1649-1706) in einer freieren Prosaübersetzung ins Deutsche. Gryphius Übersetzung folgten in Deutschland drei weitere Texte, zwei davon im Jahr 1708 (von Barthold Feind und Franz Conrad Romanus) und einer im Jahr 1725 von Daniel Wilhelm Triller.
    Die Texte sind – ausgenommen die Übersetzung von Sheffield, die sich sehr nah an das Original hält – Funeralschriften. Aufgrund dieser Anlaßgebundenheit unterliegt der Text immer neuen Transformationen. Das Motiv des Tempels ist hierbei das architektonische Grundmodell, an dem sich die Autoren orientieren. Anders als man es bei einem klassischen Begräbnisgedicht erwarten würde, ist der Tempel bei Gryphius und seinen Nachahmern aber kein Ort der Consolatio – des Trostes, sondern in Anlehnung an die Höllenfahrt in Dantes „Göttlicher Komödie“, ein Ort des Grauens, an dem eisige Kälte herrscht, nur giftige Pflanzen gedeihen und nur giftige Insekten und Schlangen leben. Im Tempel selbst sind die Säulen als personifizierte Krankheiten dargestellt, an der Decke werden verschiedene unnatürliche Todesarten gezeigt. Der Tod selbst herrscht als grausiger und blutrünstiger Dämon, der seine Opfer ohne Ansehen schlachtet. Bei Feind, Romanus und Triller wird das Bild des Tempels nochmal auf verschiedene Weise transformiert.
    Es wird zu fragen sein, welche Zwecke die unterschiedlichen Ausformungen des Bildes des Tempels innerhalb des gesellschaftlichen und religiösen Kontextes erfüllt, welche Funktion dem Tempel als memorialer Ort (im Sinne der ars memorativa/ Mnemonik) zukommt, was seine Bedeutung als religiöser Ort ist, und – im übertragenen Sinne – inwiefern er Ort des Erinnerns an eine Person ist.




    Panel 6: Geschichtskonzepte



    Agnieszka Gąsior: Geschichtskonzepte und visuelle Strategien
    im Kontext der Marienverehrung in Polen nach 1989

    Die Geschichtskulturen vieler ostmitteleuropäischer Staaten sind vom Katholizismus geprägt. Für diesen ist der Marienkult signifikant wie kein anderer; er nahm teilweise sogar auf die Bildung der nationalen Identitäten bedeutenden Einfluss wie z. B. in Polen. Die Muttergottesgewann im 19. und 20. Jahrhundert an Aktualität, als im Zuge der Nationsbildungsprozesse die staatenlosen Nationalismen Ostmittel- und Südosteuropas zunehmend auf den Rückhalt der Religion(en) bzw. Kirche(n) bauten und entfaltete in diesem Zusammenhang ihre Symbolwirkung als Identifikationsfigur für nationale Geschichtsdeutungen – im inklusiven wie im exklusiven Sinne. Nach 1989 wurde mit dem spürbaren Bedeutungszuwachs religiöser und nationaler Traditionen auch die Muttergottes erneut verstärkt als Symbolfigur im Dienste politischer Interessen medienwirksam eingesetzt. Maria spricht in ihrer traditionellen Rolle als Vermittlerin breite Bevölkerungsschichten an und erreicht als religiöses wie nationales Symbol große Wirksamkeit in der Gesellschaft, was nicht zuletzt mit ihrer hohen »Visibilität« zusammenhängt. Im Hinblick auf die Instrumentalisierung des Marienkultes durch die Vermittlung bzw. Vereinnahmung symbolischer Gehalte spielen visuelle Kulturen eine wesentliche Rolle.
    Der geplante Beitrag nimmt zwei polnische Mariensanktuarien in Tschenstochau/Częstochowa und Licheń vergleichend in den Blick, um nach der visuellen Praxis bei der Vermittlung von religiösen Inhalten und deren Einbettung in ein jeweils spezifisches Geschichtskonzept zu fragen. Zwischen dem traditionellen, nationalen Heiligtum in Tschenstochau und dem neu entstandenen, aufstrebenden Mega-Kultort in Lichen bestehen neben vielfältigen Verbindungen auch Konkurrenzen. Es gilt nach den Spezifika der historischen Bezugsysteme der beiden Sanktuarien zu fragen, ihren (Re)Präsentationskonzepten und ihrer Wirkung, nach bewussten Abgrenzungen von- bzw. Bezugnahmen aufeinander, sowie schließlich nach den treibenden Kräften und Adressaten.



    Ramona Wöllner: Geschichte vs. Metageschichte?: Geschichte als Mittel der eigenen Identitätsfindung im Prozess der Emanzipation und Rechtfertigung in der Geschichte eines nicht-jüdischen Staates

    Bruno Bauer warf 1843 in seinem Pamphlet „Die Judenfrage“ dem Judentum als Religion vor, ahistorisch zu sein, weil es als solches außerhalb der Geschichte stände. In den Zeremonialgesetzen sah er die Begründung für seine Behauptung.
    Damit traf der Linkshegelianer die Fragen der Zeit: Mögen einzelne Juden einer Entwicklung zwar fähig sein, dem Judentum als Kollektivum spricht er jegliche Geschichtlichkeit und somit Entwicklungsfähigkeit ab. Judentum sei ein Korrektivum. Bereits seit den 1820er Jahren suchen jüdische Persönlichkeiten nach einer Antwort auf die Frage, was Judentum sei.
    Ausgangspunkt ist eine jüdische Metageschichte der Hoffnung; die Gegenwart ist für die Geschichte nicht relevant. In der Mitte des 19. Jahrhunderts stellten sich die Rabbiner den Herausforderungen der Zeit: Mit historischen Begründungen für die Reform lieferten sie die verschiedensten Geschichtskonzeptionen. Abhängig, von welchen nicht-jüdischen Geschichtskonzeptionen die Persönlichkeiten beeinflusst sind, soll mittels der Geschichte die Identität und das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit umgeformt werden: ob nach Herder, Schleiermacher, von Savigny oder Hegel – ihre Ansätze bewirken die Transition des ursprünglichen Geschichtsverständnis des Judentums. Fast alle Vertreter glaubten sich daher „Führer einer positiv-historischen Reform“ nennen zu dürfen. Doch wie geschichtlich sind ihre Geschichtsentwürfe? Was sind die Funktionen von Gedächtnis bei einem Konzept mit Metageschichte? Dargeboten werden etwa die Transformation der Metageschichte in die Geschichte hinein bzw. zu einer geschichtsimmanenten Metageschichte. Begriffe wie Fortbildung, dynamisches Moment in der Geschichte, Kontinuität oder Zeitgeist prägen den Diskurs um Gedächtnis und Geschichte für die Religion und für die eigene Identität.
    Der Beitrag möchte die verschiedenen Geschichtskonzeptionen innerhalb des deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts mit seinen differierenden Erinnerungsinhalten skizzieren. Augenmerk soll dabei auf die Funktion von jüdischer Geschichte für die eigene Identität, für die Menschheitsgeschichte und für die Bestimmung des einzelnen Menschen gerichtet sein.



    Oleksandr Svyetlov: Memories of Galicia: the role
    of the Ukrainian Greek-Catholic Church

    In the face of significant Polish and Jewish presence the Ukrainian church and religious organizations always played considerable role in public and political life of Eastern Galicia. New public-church-political dynamics in the region was acquired in the middle of the 19th century. The Ukrainian Greek-Catholic Church became especially engaged in politics from 1901 to 1944 when Andriy Sheptyckiy was its Metropolit. Thanks to him the Ukrainian population of Galicia began to develop national-political consciousness, as displayed by political participation and electoral outcomes. Priests acquired authority and popularity both among simple population and intelligentsia (whose voting preferences and activism were partially formed and instigated by religious institutions), as well as politicians, who sought support of the church.
    Thus the functions performed by the Ukrainian Greek-Catholic Church (UGCC) in bringing about national consolidation, developing of nationalism as ideology and praxis, preaching patriotism and Ukrainisation in cultural, political and religious spheres before and after 1918 need consideration. In the face of significant Polish and Jewish presence the Ukrainian church and religious organizations always played considerable role in public and political life of Eastern Galicia. New public-church-political dynamics in the region was acquired in the middle of the 19th century. The Ukrainian Greek-Catholic Church became especially engaged in politics from 1901 to 1944 when Andriy Sheptyckiy was its Metropolit. Thanks to him the Ukrainian population of Galicia began to develop national-political consciousness, as displayed by political participation and electoral outcomes. Priests acquired authority and popularity both among simple population and intelligentsia (whose voting preferences and activism were partially formed and instigated by religious institutions), as well as politicians, who sought support of the church.
    Thus the functions performed by the Ukrainian Greek-Catholic Church (UGCC) in bringing about national consolidation, developing of nationalism as ideology and praxis, preaching patriotism and Ukrainisation in cultural, political and religious spheres before and after 1918 need consideration.
    To what extent could the UGCC, in the absence of national Ukrainian state structures, play the role of a quasi-state framework, exercising not only religious, legal, political, cultural and identity-related functions, but also economic and as a means of interest articulation vis-à-vis other dominant ethnic groups?
    What was the UGCC´s official position towards the new Polish state, the German occupation, and proclamation of Ukraine´s independence on 1 July 1941 in Lviv? What was the relationship between the UGCC and the Ukrainian Nationalist Movement? How are the legacies of these reassessed in modern days?
    To what extent could the UGCC, in the absence of national Ukrainian state structures, play the role of a quasi-state framework, exercising not only religious, legal, political, cultural and identity-related functions, but also economic and as a means of interest articulation vis-à-vis other dominant ethnic groups?
    What was the UGCC´s official position towards the new Polish state, the German occupation, and proclamation of Ukraine´s independence on 1 July 1941 in Lviv? What was the relationship between the UGCC and the Ukrainian Nationalist Movement? How are the legacies of these reassessed in modern days?




    Panel 7: Ritus, (Re-)Präsentation und Politik



    Sabine Reichert: Erinnerung und Transformation. Zur Einprägung stadtgeschichtlicher Ereignisse in vormodernen Prozessionen

    In der bisherigen Forschung zum mittelalterlichen Prozessionswesen sind zwei deutliche Hauptstränge zu erkennen. Zum einen hat die Liturgiewissenschaft den breiten Quellencorpus der liturgischen Handschriften, Ritual-und Zeremonialbücher ausgewertet. Dabei steht die Analyse der Gesänge bzw. ihre Funktion im Messgeschehen im Vordergrund, während der historische Kontext oftmals eher vernachlässigt wird. Demgegenüber steht die moderne Stadtgeschichtsforschung, die sich besonders im ritual turn dem innerstädtischen Prozessionswesen zugewendet hat. Sie postuliert einen Bruch in der Trägerschaft der Umgänge im Spätmittelalter: die vormals klerikalen Umgänge wurden zu Prozessionen der Bürgerschaft und boten durch ihren rituellen Charakter eine Bühne für die Inszenierung städtischer Herrschaft. Durch die Konzentration auf das Ritual und den Symbolbestand der Stadt wurden Prozessionen aber oftmals auf ihren Inszenierungscharakter reduziert. In meinem Dissertationsprojekt suche ich nach übergreifenderen Interpretationsansätzen und möchte die liturgische Bedeutung wieder stärker mit der Stadtgeschichte verknüpfen. Meiner Meinung nach sollten besonders die großen, stadtweit orientierten Umgänge nicht nur in Hinblick auf ihren rituellen Charakter untersucht, sondern auch in einen größeren politischen Kontext eingeordnet werden. Dies gilt besonders für Gedächtnisprozessionen, die unter Umständen Herrschaftsansprüche und städtische Identität nicht nur repräsentierten, sondern zudem durch die jährliche Durchführung ebenso tradierten. Vormoderne Prozessionen konnten aber nicht nur als eine besondere Form von Erinnerungsfiguren gestiftet werden, sondern auch als Speicher der Erinnerung an Vergangenes fungieren. Ein Beispiel hierfür wäre das Festhalten an liturgischen Liedern zu Ehren von längst aufgegebenen Prozessionstationen. Der Vergleich von Ritualbüchern aus verschiedenen Zeitstufen ermöglicht es dabei, nach Entwicklungstendenzen und Transformationsprozessen zu fragen.



    Gunnar R. Dumke: Der dynastische Herrscherkult der Ptolemäer:
    Die bifokale Gestaltung religiöser Erinnerung

    Der religiöse Gehalt des antiken Herrscherkultes wird in der Forschung immer noch kontrovers beurteilt; unzweifelhaft ist jedoch, dass besonders der Herrscherkult ein Scharnier zwischen politischen Absichten und persönlicher Religiösität darstellte. Dieses Scharnier konnte jedoch in beide Richtungen bewegt werden. Einmal von der herrschenden Dynastie in Richtung auf die Bevölkerung, indem bestimmt wurde, welche Herrscher zu welchem Zeitpunkt dem dynastischen Kult angehörten, zum Anderen allerdings auch von der Bevölkerung in Richtung der Herrscher, in dem z.B. einzelne Personen einen herausragenden Anklang fanden und die Dynastie dadurch genötigt wurde, Modifikationen des Kultes vorzunehmen.

    Das bewusst herbeigeführte Erinnern und Vergessen ausgewählter Herrscher innerhalb dieses Kultes formte dann in einem weiteren Schritt wiederum die Realität der Bevölkerung, die bestimmte Herrscher aus ihrem Gedächtnis verbannte oder anderen eine besonders prominente Rolle zusprach.

    Daher lässt sich an diesem Beispiel besonders deutlich der Einfluss außerreligiöser Kräfte auf das religiöse Gedächtnis aufzeigen: Von Herrscherseite als politisches Instrument, das unliebsame Vorgänger einfach verdrängen konnte, von der Seite der Bevölkerung als religiöses Instrument, indem religiöse Wünsche und Sehnsüchte auf einzelne vergöttlichte Herrscher projiziert werden konnten.

    In meinem Vortrag sollen diese Phänomene anhand der ptolemäischen Dynastie in Ägypten (323-30 v. Chr.) vorgestellt werden. Bereits der zweite Herrscher der Dynastie, Ptolemaios II., ließ einen dynastischen Kult einrichten, in dem Alexander (der Große), er selbst und seine Frau und Schwester, Arsinoe II., verehrt werden sollten. Für seine Eltern, die eigentlichen Dynastiegründer Ptolemaios I. Soter und Berenike I., wurden separate Kulte eingerichtet. Alle weiteren ptolemäischen Herrscher schlossen sich diesem Kult an; jedoch kam es im Laufe der wechselvollen Geschichte dieser Dynastie zu zahlreichen Änderungen und Neuerungen, die hier in Hinblick auf die Schlagworte Transformation, Erinnern und Vergessen untersucht werden sollen.



    Peter Itzen: „The Writing is on the Wall“: Die Krise
    der 1970er Jahre und die Church of England

    Im Winter von 1973/74 gingen in Großbritannien die Lichter aus. Die Bergarbeiter-Gewerkschaften machten ihre Drohungen eines Streiks wahr. Sie bereiteten sich auf einen groß angelegten Ausstand vor, um Lohnerhöhungen gegen die konservative Regierung durchzusetzen. Es war ein schlechter Zeitpunkt: Wie viele andere westliche Länder litt auch Großbritannien unter den Wirkungen der Ölkrise. Hinzu kam, dass die Bergarbeiter Verbündete in den Eisenbahnern fanden, die ebenfalls streiken wollten – was die Energiekrise weiter verschärfte. In dieser Lage rief Premierminister Edward Heath den Notstand aus: Die Drei-Tage-Woche wurde eingeführt, und die Energieversorgung wurde rationiert. Studenten lernten im Kerzenschein für ihre Examensprüfungen. Manche nahmen diese Entwicklungen gelassen und mit Humor, doch bei vielen saß der Schock der Energiekrise tief. In der Church of England stand die Energiekrise bald im Mittelpunkt fast sämtlicher Debatten. Diesen Diskussionen wird sich der Vortrag widmen.

    Über die Diagnose und die Lösungsmöglichkeiten der Krise wurde auf verschiedenen Ebenen der Kirche diskutiert – in der Generalsynode, unter den führenden Bischöfen und Theologen des Landes und innerhalb neuer kirchlicher Fach-Institutionen, die in der Nachkriegsgeschichte geschaffen worden waren, sich qua Amt mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen beschäftigten und deren Einfluss seit den sechziger Jahren rapide gestiegen war.

    Diese Debatten waren zugleich Diskussionen über die inneren Verhältnisse der Kirche und über die Relevanz überlieferter christlicher Vorstellungen. Neben diese inhaltliche Komponente trat die Auseinandersetzung darüber, wer die entscheidende Stimme innerhalb der Church of England sein solle: die neuen Institutionen, die sich qua Amt mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen auseinandersetzten oder die traditionelle Führung der Kirche durch die Bischöfe, die sich nach wie vor als die Hirten der Kirche und des Landes betrachteten und die Einflussnahme neuer Gruppierungen in der Kirche skeptisch sahen.

    Der Vortrag soll die verschiedenen Ebenen der Diskussionen nachzeichnen und deutlich machen, wie dabei unterschiedliche theologische Überzeugungen und Traditionen und neue institutionelle Entwicklungen den Verlauf der Debatte prägten. Zugleich soll der Vortrag eine Erklärung dafür anbieten, wieso die Church of England sich in den 1970er Jahren – trotz ihres großen öffentlichen Engagements und der hohen Intensität der Debatte – mit weniger Erfolg an öffentlichen Diskussionen teilnahm, als dies zum Beispiel in den 1980er Jahren der Fall war.