Wirtschaftspolitisches Forum

Wie ökonomisch ist der „more economic approach“ in der europäischen Wettbewerbspolitik?



André Schmidt, cege-Report, S. 3, Februar 2007


Es besteht kein Zweifel, der „more economic approach“ in der europäischen Wettbewerbspolitik ist auf dem Vormarsch. Nach der Neuordnung der Vorschriften zur Anwendung des europäischen Kartellrechts und der grundlegenden Revision der Fusionskontrolle im Jahr 2004 stehen nun die Miss­brauchs­aufsicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen und die Beihilfenkontrolle auf dem Prüfstand. Der „more economic approach“ scheint sich zu einem (neuen) alles bestimmenden wettbewerbspolitischen Leitbild der euro­päischen Wett­be­werbspolitik zu entwickeln.


Zunächst ist zu fragen, was eigentlich mit dem „more economic approach“ in der europäischen Wettbewerbspolitik gemeint sein könnte. Erstens könnte es darum gehen, zur Vorbereitung der Entscheidungs­findung vermehrt auf ökonomische Modelle zurückzugreifen. Zweitens könnte mit einem ökonomischeren Ansatz auch gemeint sein, dass der erforderliche Ressourcen­aufwand geringer ist als bei der Nutzung anderer, bisher genutzter Ansätze, und drittens schließlich könnte ein ökonomischerer Ansatz verstärkt an den ökonomischen Kon­sequenzen der Entscheidungsfindung interessiert sein. Die Kommission scheint primär vom ersten Ziel getrieben zu sein. Im Vordergrund steht der Rückgriff auf hinreichend spezifizierte ökonomische Modelle in der Entschei­dungs­findung unter Betonung einer am konkreten Einzelfall aus­gerichteten Entscheidung.


Aus ökonomischer Sicht ist jedoch zu bezweifeln, ob dieser neue ökonomischere Ansatz tatsächlich zu mehr Effizienz in der Wettbewerbspolitik führt, denn es besteht die Gefahr, dass die angestrebte Einzelfallorientierung (rule of reason) zu einer Reduktion der Rechtssicherheit und damit zu Ineffizienzen in der europäischen Wettbewerbspolitik führt. Grundlegend hierfür ist, dass den verschiedenen Vorschlägen der Kom­mission zur Umsetzung des „more economic approach“ eines gemeinsam ist: Die angestrebte Einzelfallgerechtigkeit soll durch eine Verstärkung der rule of reason erfolgen. Im Umkehrschluss bedeutet das jedoch gleichzeitig eine Ab­wertung von per se-Regeln. Es ist jedoch zu fragen, ob die Kommission mit der Entscheidung, die Wettbewerbspolitik stärker an einer rule of reason auszurichten, nicht gleichzeitig auch eine sehr kostenträchtige Entscheidung trifft. Sie ver­zichtet auf die ökonomischen Vorteile von per se-Regeln in der Form von Transparenz, eines hohen Grades an Rechtssicherheit, geringer Transaktionskosten und geringen potenziellen Ein­flussnahmen auf die Entscheidungen der Kommission.


Der Nutzen einer stärkeren rule of reason orientierten Wettbe­werbspolitik wird vor allem in einer höheren Entschei­dungsqualität in Form der Reduktion der jeweiligen Ent­scheidungsfehler der ersten und zweiten Ordnung gesehen. So könnten mithilfe des ökonomischeren Ansatzes unge­rechtfertigte Freigaben (Fehlertyp 1. Ordnung) und unge­recht­fertigte Untersagungen (Fehlertyp 2. Ordnung) reduziert werden. Insgesamt würde dies zu Wohlfahrtserhöhungen führen, da direkte Wohlfahrtsverluste durch wettbewerbs­schäd­liche Verhaltensweisen vermieden und gleichzeitig potentielle Effizienzgewinne realisiert werden könnten. Aus ökonomischer Sicht sind daher die Vorteile des ökono­mischeren Ansatzes primär in der Reduktion von Fehlerkosten zu sehen.


Diesen Vorteilen sind jedoch die jeweiligen Kosten gegen­überzustellen. Sie resultieren in der Hauptsache aus der Form eines höheren Verfahrensaufwandes und der Gefahr einer fak­tischen Verringerung an Rechtssicherheit. Weiterhin sind bei Einzelfallentscheidungen höhere Entscheidungskosten zu er­warten, da die Qualität der zu treffenden Entscheidungen maßgeblich davon abhängen wird, inwieweit es der Wettbe­werbsbehörde gelingt, die entscheidungsrelevanten Infor­mationen zu beschaffen und zu verarbeiten.


Ein weiteres Problem, das die Anwendung des „more economic approach“ erschwert, ist in der Übertragung industrieöko­nomischer Modelle in die wettbewerbspolitische Praxis zu sehen. Die in der Industrieökonomik verwendeten Modelle beziehen sich hauptsächlich auf Preisbildungsprozesse. Preis­bildungsmodelle sind aber nicht in der Lage, das gesamte Spek­trum von Wettbewerbsprozessen abzubilden. Vielmehr besteht der Wettbewerbsprozess aus dem komplexen Zusammenwirken mehrerer verschiedener Aktionsparameter. Insofern sind hier der Übertragbarkeit industrieöko­nomischer Modelle enge Grenzen gesetzt, es sei denn man reduziert die Wettbewerbs­politik auf die Aufgabe des Schutzes des Preiswettbewerbs. Darüber hinaus sind der Übertragbarkeit ab­strakter Modelle in empirische Simulationen, die gerichtsver­wertbare Tatsachen lie­fern, enge Grenzen gesetzt. Die Ursache hierfür findet sich in der Tatsache, dass eine allgemeingültige Theorie der industrie­ökonomischen Konzepte nicht besteht und damit die syste­matische empirische Überprüfung nicht möglich ist. Eine scharfe Abgrenzung des Gültigkeitsbereichs der ein­zelnen Mo­delle und des für den Einzelfall in Frage kommenden jeweils relevanten Modells kann daher nicht vorgenommen werden.


Insofern sind erhebliche Zweifel erlaubt, ob der „more economic approach“ in der europäischen Wettbewerbspolitik tatsächlich ein ökonomischerer Ansatz ist. Dessen Umsetzung sollte aufgrund der hier skizzierten Bedenken nicht bei der Regelanwendung durch eine ausge­dehnte rule of reason-Praxis, sondern vielmehr bei der Regel­setzung erfolgen.