Forum for Economic Policy

Konsolidierungszwang oder Verschuldungsrechte?



Renate Ohr, Handelsblatt, p. 8, October 23, 2004


Es gibt im Leben immer wieder Situationen, in denen man sich wünscht, daß sich der Partner (Ehepartner, Geschäftspartner oder Vertragspartner) an eine gegenseitig beschlossene Vereinbarung hält, während man sich selbst gerne darüber hinweg setzen möchte. Da dies zumeist allen Parteien einer Vertragsvereinbarung so geht, folgt das aus der Spieltheorie bekannte „Gefangenendilemma“. Es bedeutet, daß ein gemeinschaftlich erwünschtes Verhalten unter Umständen aus individuell nutzenmaximierender Sicht für den Einzelnen nicht rational erscheint. Die Folge sind gegen den Gemeinschaftssinn oder die Vertragsvereinbarung verstoßende Entscheidungen jedes Einzelnen, die letztlich im Zusammenspiel für alle Beteiligte zu suboptimalen Ergebnissen führen.


Genau dies ist das Problem des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Es ist für alle günstig, wenn die Staatsverschuldung in der Währungsunion nicht zu hoch wird, doch kann es aus Sicht einer nationalen Regierung (zumindest kurzfristig) interessant sein, eine höhere Staatsverschuldung als vereinbart zu praktizieren. Um zu vermeiden, daß alle so denken, danach handeln und somit die Staatsverschuldung in der Währungsunion insgesamt doch höher als gewünscht wird, wurden im Stabilitäts- und Wachstumspakt Sanktionen beschlossen. Nur dadurch, daß der einzelstaatliche Regelverstoß mit Strafen belegt wird, kann der Anreiz zu regelwidrigem Verhalten unterbunden werden.


Es ist allerdings hinlänglich bekannt, daß die Sanktionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht greifen. Solange der Ministerrat (in der Zusammensetzung der nationalen Finanzminister) in die Entscheidung über Sanktionen maßgeblich involviert ist, werden die Beschlüsse über die aktuellen Sünder von potentiellen Sündern getroffen. Im „mehrstufigen Spiel“ wird deutlich, daß die Strafandrohung nicht (mehr) glaubwürdig ist und von immer weniger „Spielern“ ernst genommen wird. So können wir beobachten, daß sich die Haushaltskonsolidierung bald nach dem Start der Währungsgemeinschaft kontinuierlich zurückgebildet hat und mittlerweile die Hälfte der Euro-Länder eine vertragswidrige Nettoneuverschuldung von über drei Prozent aufweist!


Die neuesten Ideen der EU-Kommission sollen nun dem Wunsch der meisten Euro-Regierungen nach mehr Budgetflexibilität in konjunkturell schwachen Zeiten entgegen kommen. Sie beinhalten Ausnahmeregelungen für die Neuverschuldungsgrenze nicht nur bei
einer starken Rezession mit Negativwachstum – wie es der Stabilitätspakt vorsieht, sondern auch schon bei einer mehrjährigen Phase „schwacher Wachstumsraten“. Zugleich soll die Frist zum Abbau eines zu hohen Defizits auf relativ unbestimmte Zeit verlängert werden. Mit dieser „flexibleren Anwendung“ des Paktes würden die bisher schon entstandenen Probleme jedoch nur weiter verschärft, indem der Ermessenspielraum bei den Sanktionsentscheidungen noch diffuser und größer und nahezu jegliche Sanktionsandrohung absolut unglaubwürdig würde.


Der Stabilitätspakt hat kein Ausgestaltungs-, sondern ein Umsetzungsproblem. Der Ansatzpunkt zur Lösung des Problems liegt daher in den Anreizstrukturen. Wenn es dem derzeitigen Stabilitätspakt nicht gelingt, die gewünschte Budgetflexibilität für konjunkturelle Schwächeperioden dadurch zu erreichen, daß in günstigen Konjunkturphasen die Haushalte weitgehend konsolidiert werden, muß über andere Anreizmechanismen nachgedacht werden – z.B. über einen Handel mit Verschuldungsrechten.


Ziel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes soll es ja sein, die Staatsverschuldung innerhalb der Währungsunion in Grenzen zu halten. Dabei ist es jedoch prinzipiell unerheblich, wie sich die Verschuldung auf die einzelnen Mitgliedsländer verteilt. Eine mehr als dreiprozentige Nettoneuverschuldung einiger Länder wäre für die Währungsunion dann tolerabel, wenn andere Länder sich entsprechend weniger verschuldeten. Diese Kompensation könnte nun dadurch erreicht werden, daß in Höhe der im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgegebenen Höchstgrenzen der Nettoneuverschuldung sog. Verschuldungsrechte zugeteilt werden. Will ein Mitgliedsland eine darüber hinaus gehende Staatsverschuldung praktizieren, so muß es entsprechende Rechte von einem der anderen Länder erwerben (entsprechend den Emissionsrechten in der Umweltpolitik). Anstelle von konstitutionellen Sanktionen als Disziplinierungsinstrument würde nun der Markt seine disziplinierenden Anreiz- und Sanktionswirkungen entfalten können. Mehrere Vorteile wären damit impliziert:


Solche externen Effekte in Form von Vorwärts- und Rückwärtsverkettung, über Investitionen in das Humankapital und in Forschung und Entwicklung oder über die Verbreitung technologischer Innovationen entstehen aber eben seltener in der derzeit importabhängigen Textilbranche und eher in den exportorientierten Sektoren des Maschinenbaus oder der Chemie. Ein Rückzug aus unserem „Geschäftsmodell“ der etablierten Exportindustrien zu Gunsten von Importsubstitution wäre daher fatal.


So könnten Regierungen, die aus konjunkturellen Gründen temporär eine höhere Neuverschuldung als im Stabilitätspakt vorgesehen eingehen möchten, dies über den Kauf von Verschuldungsrechten verwirklichen. Dabei würden die mit einer höheren Verschuldung verbundenen negativen externen Effekte auf die Gemeinschaft internalisiert, da der Kauf der Verschuldungsrechte mit Kosten verbunden ist. Da eine Regierung über den Kauf der Verschuldungslizenzen direkt und zeitnah die Kosten für ihre überhöhte Neuverschuldung tragen muß, würden auch Effizienzkriterien eine größere Rolle spielen. Andere Länder wiederum, die eine sehr stabilitätsbewußte Haushaltspolitik betreiben, könnten schließlich über den Verkauf von Verschuldungsrechten Einnahmen erzielen und würden damit „belohnt“.


Durch diese Lösung wären der konjunkturpolitische Handlungsspielraum und die haushaltspolitische Flexibilität nicht mehr starr beschränkt, und doch würde das Verschuldungslimit der Währungsunion eingehalten. Auch wenn die konkrete Ausgestaltung eines solchen Verfahrens gewisse institutionelle und organisatorische Fragen aufwerfen würde, wären diese wohl – aufbauend auf den Erfahrungen mit Emissionsrechten – vermutlich lösbar. Aus ordnungspolitischer Sicht wäre dies eine Möglichkeit, bei gleichzeitig größtmöglichem fiskalpolitischen Spielraum für die nationalen Regierungen die Ziele des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu verwirklichen.