Die diachrone und synchrone Spezifikation von phi-Merkmalen im Kontext pronominaler Anrede im Französischen, Spanischen und Italienischen (HABILITATIONSSCHRIFT, Arbeitstitel, Göttingen)

Fragestellung



1) Ist es einzelsprachlich notwendig, eine eigene morpho-syntaktische Kategorie 'Respekt' anzunehmen, die bei pronominalen Anredeformen spezifiziert ist oder konstituieren sich Anredeformen ausschließlich aus Person- und Numerus-Merkmalen?

Oder anders gefragt: Wie viel Pragmatik braucht die Morpho-Syntax? Grundsätzlich spielte die Anrede in der romanistischen Morpho-Syntax-Forschung eine bislang randständige Rolle (siehe u.a. Dressler & Merlini Barbaresi 1994). Simon (2003) zeigt in seiner Dissertation zum Deutschen, dass die Anrede eine morpho-syntaktische Kategorie ausgebildet hat, die der Autor, in Anlehnung an Haase (1994), mit 'Respekt' bezeichnet.
Im Zusammenhang mit Anredeformen spielen Homophonien eine zentrale Rolle, da Höflichkeitspronomina häufig homophon zu Personalpronomina sind (bspw. Frz. vous, Arch. Ital/Reg. Ital. voi, St. Ital. Lei, etc.). Handelt es sich bspw. um vous1, vous2 im Lexikon oder sind die Höflichkeitsform und die nicht markierte Anredeform identisch? Ein besonders interessanter Fall ist chil. Sp. usted, das nicht nur als Höflichkeitsform, sondern auch als Näheform verwendet wird (so genanntes usted de cariño). Handelt es sich um ein und dieselbe lexikalische Form oder müssen zwei unterschiedliche Repräsentationen im Lexikon angenommen werden (usted1, usted2)?

2) Welche Entwicklung haben die untersuchten Anredesysteme diachron in Bezug auf die Interaktion von Pragmatik und Grammatik, unter Berücksichtigung eines etwaigen Respektmerkmals genommen?

In diesem Zusammenhang wird dargestellt, wie die Anredeformen sich in ihrer Spezifikation diachron gewandelt haben, wobei die Verwendungskontexte nachvollzogen werden müssen.

3) Wie kann ein etwaiges Respektsmerkmal in ein flexionsmorphologisches Modell integriert werden bzw. wie können formale Inkongruenzen bei der Höflichkeitsanrede erfasst werden?

Pollard & Sag (1994) nehmen in ihrer HPSG-Analyse für das Französische an, dass vous über ein koindiziertes 'Background'-Merkmal mit dem Verb verbunden ist. Heap (2002), der auf der Grundlage von Harley & Ritter (2002) argumentiert, die widerum kein Respektsmerkmal annehmen, schlägt für das Französische eine Unterspezifikation von Frz. vous für 'Plural' vor, um auch die Höflichkeitsanrede zu erfassen.
In meiner Arbeit erweitere ich stufenweise die Merkmalsgeometrie nach Harley & Ritter (2002) und integriere sie in das syntaktische Modell der lexikalisch-funktionalen Grammatik (LFG; siehe u.a. Kaplan & Bresnan 1982). Einen wichtigen Hinweis auf die Analyse von Komplementsätzen im Höflichkeitskontext des Franzöischen (bspw. Vous êtes belle) liefern Wechsler & Zlati? (2003) im Rahmen von HPSG sowie Hahm (2010), Wechsler (2011), Wechsler & Hahm (2011) jeweils im Rahmen von LFG (siehe u.a. Kaplan & Bresnan 1982). Insbesondere die Analyse von Wechsler (2011) wende ich auf die von mir untersuchten Sprachen an.

4) Wie sind die Ergebnisse zur Spezifikation der Anredesysteme vor dem Hintergrund von Höflichkeitstheorien zu interpretieren?

Meine Aussagen zur Anrede orientieren sich in erster Linie an ihrer grammatischen Gestalt. Diese gilt es jedoch vor dem Hintergrund etablierter Höflichkeitstheorien zu überprüfen. Dies geschieht u.a. im Zusammenhang mit Brown & Levinson (1978), Ide (1989), Kerbrat-Orecchioni (2005) und Leech (2014). Die Überprüfung ist deshalb notwendig, weil Anredesysteme in ihrer Verwendung ein hohes Maß an Dynamik aufweisen. So kann chil. Sp. usted nicht nur als Höflichkeitsform verwendet werden, wie ich bereits erwähnt habe. Ähnliches gilt für vos, das unmarkiert wie auch despektierlich verwendet wird; ursprünglich war es gar ein Respektspronomen. Muss dieser Dynamik auch das grammatische System anhand entsprechender Merkmale Rechnung tragen?


Literatur



Brown, Penelope & Stephen C. Levinson. 1987. Politeness: Some Universals in Language Usage. Cambridge: CUP.

Dressler, Wolfgang U. & Lavinia Merlini-Barbaresi. 1994. Morphopragmatics: diminutives and intensifiers in Italian, German, and other languages. Berlin: Mouton De Gruyter.

Haase, Martin. 1994. Respekt: Die Grammatikalisierung von Höflichkeit. München: LINCOM Europa.

Hahm, Hyun-Jong. 2010. A Cross-Linguistic Study of Syntactic and Semantic Agreement: Polite Plural Pronouns and Other Issues, PhD-thesis, University of Texas, Austin.

Harley, Heidi & Elizabeth Ritter. 2002. Person and number in pronouns: a feature-geometric analysis. Language 78 (3): 482-526.

Heap, David. 2002. Split subject pronoun paradigms: feature geometry and underspecification, in T. Satterfield, C. Tortora & D. Cresti (eds): Current issues in Romance languages: selected papers from the 29th Linguistic Symposium on Romance Languages (LSRL), Ann Arbor, 8-11 April 1999. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins, 129-144.

Ide, Sachiko. 1989. Formal forms and discernment: two neglected aspects of uniersals of linguistic politeness. Multilingua 8 (2-3): 223-248.

Kaplan, Ronald & Joan Bresnan. 1982. Lexical-Functional Grammar: A Formal System for Grammatical Representation, in Joan Bresnan (ed.): The Mental representation of grammatical reations, Cambridge MA: MIT Press, 173-281.

Kerbrat-Orecchioni, Catherine. 2005. Politeness in France: How to buy a bread politely, in Leo Hickey & Miranda Stuart (eds.): Politeness in Europe. Clevedon: Multilingual Matters, 29-44.

Leech, Geoffrey. 2014. The Paragmatics of Politeness. Oxford: OUP.

Pollard, Carl & Ivan A. Sag. 1994. Head-Driven Phrase Structure Grammar. Stanford: CSLI.

Simon, Horst J. 2003. Für eine grammatische Kategorie ?Respekt? im Deutschen: Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina. Tübingen: Niemeyer.

Wechsler, Stephen. 2011. Mixed agreement, the person feature, and the index/concord distinction. Natural Language & Linguistic Theory 29: 999-1031.

Wechsler, Stephen & Hyun-Jong Hahm. 2011. Polite plurals and adjective agreement. Morphology 21: 247-281.

Wechsler, Stephen & Larisa Zlati?. 2003. The many faces of agreement. Stanford: CSLI.