Forschung

Der nationalsozialistische „Zivilisationsbruch“ wurde von vielen Zeitgenossen der Nachkriegszeit als fundamentaler Einschnitt gedeutet: Für das ausgeprägte Epochenbewusstsein war dabei die Wahrnehmung zentral, dass alle „Grundsätze von Gerechtigkeit und Humanität“ unter dem NS-Regime radikal in Frage gestellt worden waren. Diese besondere Konstellation, aber auch die Verheerungen der Nachkriegszeit warfen die Frage nach den Potenzialen und Grenzen der Menschlichkeit in beispielloser Schärfe auf. In unterschiedlichen kommunikativen ‚Arenen‘ und institutionellen Settings gewann in der Folge ein Repertoire eng verwandter Konzepte international an Bedeutung: ‚Humanität‘, ‚Menschlichkeit‘ und der ‚Humanismus‘ wurden verbreitet als Ideale stark gemacht und waren zugleich Gegenstand emotionaler Debatten. Neue Studien zur Zeitgeschichte der Menschenrechte und der Humanitären Hilfe – beides aktuell intensiv bearbeitete Forschungsfelder – verweisen auf eine große Präsenz der Begriffe nach 1945.
Diese Befunde sollen zum Anlass genommen werden, den Repräsentationen von Humanität, ihrer Konstituierung und ihrer medialen Verfasstheit seit der unmittelbaren Nachkriegszeit nachzugehen. Ihre Transformationen und Ausdifferenzierungen werden in einer transnationalen Perspektive bis in die 1970er-Jahre verfolgt. Im Zuge der Analyse zeitgenössischer Deutungsweisen wird ein zentraler Befund die Studie prägen: In der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1950er-Jahren begegnet man in sehr unterschiedlichen medialen Kontexten einem qualitativ neuen Konnex von Humanität und Visualität. Diese Verbindung stand bei vielen Zeitgenossen für einen ausgeprägten Optimismus, dass über bildliche – konkret zumeist fotografische – Darstellungen ergründet werden könne, was ‚den Menschen‘ ausmache, worin mithin das allen Menschen Gemeinsame bestünde.
Ich möchte aufzeigen, dass visuelle Strategien und fotografische Techniken, die rund um den Zweiten Weltkrieg verfeinert und ausdifferenziert wurden, die Perzeption von Humanität grundlegend prägten. Es entstand, so die leitende Hypothese, eine einflussreiche Art der Visualisierung, die mit einer spezifischen Lenkung und Schulung des Blickes einherging. Diese praktische Dimension der Bildproduktion war untrennbar mit breiten zeitgenössischen Diskursen zu den Potenzialen des Visuellen verbunden. Man kann in Abwandlung der Terminologie Ludwig Flecks von einem besonderen ‚Sehstil‘ sprechen, der in der Folge viele publizistische Felder prägte und von einem einflussreichen transnational agierenden Netzwerk medienschaffender Akteure verbreitet wurde. Diese spezifische Art des Sehens und Abbildens soll als ‚human gaze‘ beziehungsweise ‚Menschlicher Blick‘ bezeichnet werden. Der Terminus wird als Oberbegriff für verschiedene visuelle Strategien und diskursive Muster dienen, die um die Möglichkeit kreisten, Menschlichkeit im Bild sichtbar zu machen. Wie das möglich sei und was den Menschen letztlich ‚im Kern‘ ausmache, wurde von verschiedenen Akteuren unterschiedlich zugespitzt. In der Studie sollen Varianten des ‚human gaze‘ synchron und diachron aufgeschlüsselt, aber auch deren gemeinsame Nenner herausgearbeitet werden. Es wird außerdem notwendig sein, über den engeren Untersuchungszeitraum hinaus Vorläufern und Versatzstücken des ‚Blicks‘ nachzugehen, um den Schwellencharakter der 1940er-Jahre aufzuzeigen. Zu denken ist besonders an die französische Straßenfotografie der Zwischenkriegszeit und sozialdokumentarische Traditionen in den USA.
Die Verbindung von Visualität und Humanität schien nach 1945 besonders ausgeprägt im Kontext der illustrierten Wochenpresse auf, die in den 50er- und 60er-Jahren in Europa und den USA eine beispiellose Hochphase erlebte. Ganze Generationen von Fotojournalisten und ambitionierten Hobbyisten arbeiteten sich seitdem an den Standards ab, die berühmte ‚humanist photographers‘ wie Robert Capa oder Robert Doisneau setzten. Magazine und Spezialliteraturen für Fotografinnen und Fotografen legten bereits in den 50er-Jahren beredt Zeugnis von Entschlüsselungs- und Nachahmungsversuchen der einschlägigen Bildsprachen ab. Besonders prominent manifestierten sie sich in der epochalen Museumsausstellung „The Family of Man“ im New Yorker ‚Museum of Modern Art‘ von 1955, die während des ‚Kalten Krieges‘ in Ost und West ebenfalls sehr erfolgreiche Nachahmungen fand.
Beobachten kann man die Bildsprachen und die zugrundeliegenden Annahmen aber auch in wissenschaftlichen Debatten, beispielsweise mit einer gewissen Latenz in der ‚Visual Anthropology‘, die sich Mitte der 1960er-Jahre zu konstituieren begann. Erstaunlich ähnliche Konzepte hatten Fotografen schon früher verfolgt und vereinzelt sogar auf den Begriff gebracht: Henri Cartier-Bresson verfolgte bereits seit Ende der 1950er-Jahre konsequent eine fotografische Perspektive, die er selbst als „anthropologie visuelle“ bezeichnete. Wie sehr solche Sichtweisen die Zeitgenossen beschäftigten – und wie umstritten sie sein konnten – zeigen auch die intellektuellen Debatten der Zeit, an denen sich ‚Hochkaräter‘ wie Roland Barthes und Susan Sontag besonders kritisch beteiligten.
Auch wenn das Projekt gerade nicht darauf beschränk bleiben soll, berührt es darüber hinaus ein weiteres (zurzeit besonders dynamisches) Forschungsfeld: Die gesamte Thematik des ‚Humanitarismus‘ nach dem Zweiten Weltkrieg, die Institutionalisierung globaler politischer Instanzen und die Menschenrechtsdebatten der Zeit liefern zahlreiche Exempel für die Verbreitung des ‚Menschlichen Blicks‘ sowie der damit verbundenen Diskurse. Zu den prominenten Kampagnen und zur Bildsprache fast aller größeren humanitären Organisationen gibt es inzwischen einige Studien. Ein zentrales und vielfach bearbeitetes Thema ist in diesem Zusammenhang die Verbildlichung von ‚cruelty‘. In vielen Studien zur ‚imagery‘ von Humanitarismus und Menschenrechten steht die Visualisierung von ‚humanity‘ damit jedoch deutlich im Hintergrund. Wie man an den Nachkriegsprojekten der UNESCO zeigen kann, waren deren Kampagnen aber nicht nur auf die fotografische Visualisierung von Leid und Grausamkeit, sondern besonders auf den Nachweis von Menschlichkeit (in dezidiert inhumanen Konstellationen) ausgerichtet.