Die Geschichte des Skandinavischen Seminars


Skandinavistische Forschung hat in Göttingen eine sehr lange Tradition: Von 1830 bis zu ihrer Entlassung aufgrund des Protests gegen die Aufhebung der liberalen Verfassung im Königreich Hannover 1837 waren die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm als Rechtbibliothekare und Professoren in Göttingen tätig. Insbesondere Jacob Grimm arbeitete in seinen Forschungen zur Rechtsgeschichte und Mythologie intensiv mit altnordischen, also frühen skandinavischen Texten. Er prägte entscheidend die Vorstellung der „Germanischen Altertumskunde“, dass die Kulturen der alten „Germanen“ in Religion, Recht, Dichtung und Kunst in gleicher Weise verwandt seien wie die germanischen Sprachen selbst. Auf dieser Basis wurden Texte des skandinavischen Mittelalters – Eddas, Sagas, Skaldendichtung – als Quellen auch zur „deutschen“ Frühgeschichte betrachtet und deshalb interessant. Von dieser Vorstellung ist die Wissenschaft inzwischen aus guten Gründen abgerückt, aber sie ermöglichte weit nach Grimms Tod, in Zeiten völkischer Ideologie und besonders im Nationalsozialismus, den missbräuchlichen Bezug zum Beispiel auf die eddische Mythologie und die Runen als etwas „Eigenes“. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Erkenntnis durch, dass die skandinavischen Literaturen auch der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart einen eigenen Forschungsgegenstand darstellen, dem sich ein eigenes Fach mit eigenen Strukturen widmen soll. Bis dahin wurde die Skandinavistik, vor allem die Altnordistik, als Spezialisierung innerhalb der Germanistik betrachtet.

So war es auch in Göttingen. Die Geschichte unseres Seminars lässt sich am besten anhand seiner Professuren nachvollziehen, weil die Struktur von Forschungseinrichtungen in Deutschland bis heute um ihre Professorinnen und Professoren angeordnet ist. Selbstverständlich war und ist unser Seminar sehr viel mehr als die akademische Biographie seiner Direktoren, lebt es doch von der Arbeit der Lektorinnen und Lektoren, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – von denen übrigens mehrere auf Professuren an anderen Universitäten berufen wurden – und von der Studierendenschaft. Der folgende kurze Überblick wird also dem Skandinavischen Seminar als Ganzes nicht gerecht, sondern orientiert sich an der Geschichte seiner Leitung und inhaltlichen Ausrichtung. Einen eigenen Lehrstuhl für Altnordistik erhielt die Georgia Augusta durch eine Zwangsversetzung: Gustav Neckel, Professor in Berlin, der selbst aktiv völkische Positionen vertrat, wurde im Rahmen einer von Nationalsozialisten gegen ihn gesponnenen Intrige 1935 nach Göttingen versetzt, ehe er 1937 rehabilitiert nach Berlin zurückkehren konnte. Den Arbeitsbereich aber behielt die Universität bei und wies ihn Wolfgang Krause zu, einem Professor für Indogermanistik und ausgewiesenen Spezialisten für Runologie. Nun stellte gerade die Altnordistik als Abteilung der damaligen Germanistik im Dritten Reich eine Schlüsselwissenschaft dar, an der das Regime besonders interessiert war. Auch Krause kooperierte mit dem SS-Ahnenerbe, das 1943 eine „Lehr- und Forschungsstätte für Runen- und Sinnbildkunde“ in Göttingen einrichtete und finanziell förderte. Solche Kooperationen mit dem Nazi-Regime kennzeichnen die Fachgeschichte jener Geisteswissenschaften wie Germanistik und Geschichte, auf welche die Machthaber zugingen, weil sie sich von ihnen eine Unterfütterung ihrer Ideologie erhofften und oft auch erhielten. Für Wolfgang Krause war es augenscheinlich besonders wichtig, dass der NS-Apparat keine außeruniversitäre Runenforschung etablierte, welche unter der Kontrolle von (Pseudo-)Wissenschaftlern gestanden hätte, die er zu Recht für inkompetent hielt. Abgesehen von der institutionellen Kooperation hat sich Krause von inhaltlichen Anbiederungen an die NS-Ideologie in seiner Forschung oder Mitgliedschaften in weiteren NS-Organen ferngehalten.

So betrieb Wolfgang Krause auch die 1950 vollzogene Gründung des Skandinavischen Seminars, die auf einen stärker landeskundlich-geographischen Skandinavienbezug und eine entsprechende Personalausstattung zielte. 1964 folgte ihm Wolfgang Lange, dessen Forschungsschwerpunkte altnordische Dichtung und germanische Altertumskunde waren, der aber von Anfang an auch zur modernen skandinavischen Literatur lehrte. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch dauerhafte Lektorate für die modernen skandinavischen Sprachen eingerichtet, und so erhielt das Seminar seine feste Struktur. 1979 schließlich wurde mit Fritz Paul, der 1985 die frühere Geschichte des Seminars gründlich aufarbeitete, ein Spezialist für die neueren skandinavischen Literaturen auf den Lehrstuhl berufen, der dem Skandinavischen Seminar in Forschung und Lehre ein auf die Moderne ausgerichtetes, komparatistisches Profil gab. In seiner Zeit, genauer 1983, zog das Seminar in seine heutigen Räumlichkeiten im Jacob-Grimm-Haus, einem historistischen Bau, der einstmals zur Universitätsklinik gehört hatte und sowohl der Bibliothek als auch Kontoren und Unterrichtsräumen Platz bietet. 2002 wurde Joachim Grage (heute Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) zum ersten Juniorprofessur für Skandinavistik in Deutschland bestellt. Die neuzeitliche Ausrichtung entwickelte Karin Hoff weiter, die von 2007 bis zu ihrer Berufung an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 2020 als Fritz Pauls Nachfolgerin Schwerpunkte in der Komparatistik, in Forschungen zur transkulturellen Verflechtung Skandinaviens und der Dramenforschung setzte und das Seminar in mehreren Studiengängen eng mit den Nachbarfächern vernetzte, dabei aber auch die skandinavistische Mittelalterforschung förderte. Sie wurde und wird von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie von Juniorprofessoren wahrgenommen. Die Mediävistik nähert sich ihren Forschungsgegenständen, die nach wie vor höchst bedeutend für die Identität in den skandinavischen Ländern, für die Populärkultur weltweit (und mitunter auch für rechte Randgruppen) sind, heute aus einem kulturübergreifenden und vergleichenden Blickwinkel und versteht sich mit der neueren Abteilung als Teil einer übergreifenden Disziplin. Von 2008 bis 2014 war Matthias Teichert als Juniorprofessor für skandinavistische Mediävistik tätig, von 2015 bis 2020 Roland Scheel. Er vertrat von 2020 bis 2022 die aktuell zur Neubesetzung ausstehende Professur, die seither von Markus Kleinert vertreten wird.