Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür (1947). Drama
Inhalt
Das Drama handelt vom ehemaligen Soldaten Beckmann, der nach drei Jahren im Krieg in seine Heimat zurückehrt und feststellen muss, dass seine Frau einen neuen Partner hat und für ihn kein Platz mehr im Leben geblieben ist. Gleich zu Beginn des Dramas versucht er, sich in die Elbe zu stürzen, da er seinen Lebenssinn verloren hat. Allerdings wird er von einem Mädchen gerettet, welches sich um ihn kümmert und ihn mit nach Hause nimmt. Als der Partner des Mädchens, welcher ebenfalls im Krieg gedient hat, nach Hause kommt und Beckmann an seinem Platz auffindet, flüchtet Beckmann. Auf seiner ziellosen Suche nach Halt begegnet er verschiedenen Menschen, doch niemand erkennt sein Leid oder ist bereit, ihm zu helfen und Verantwortung zu übernehmen. Seine Eltern sind verstorben, der Oberst, dem er im Krieg gedient hat, weist jede Schuld von sich und lacht über Beckmann, selbst Gott und der Tod verweigern ihm Trost und Erlösung. Er versucht seiner Hilflosigkeit entgegenzuwirken, indem er einen Kabarettdirektor um eine Anstellung bittet, wird von diesem jedoch auch abgewiesen. Immer wieder tritt ihm „der Andere“ entgegen, welcher Beckmanns innere Stimme darstellt. Am Ende bleibt Beckmann verzweifelt und kraftlos auf der Straße zurück und fragt vergeblich nach Antworten, doch niemand hört ihn.
Einordnung
Wolfgang Borchert (1921–1947) zählt zu den zentralen Vertretern der sogenannten Trümmerliteratur, die in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Diese Strömung zeichnet sich durch eine realistische und von persönlicher Betroffenheit geprägte Sprache aus, mit der die Autor*innen das Erlebte zu verarbeiten versuchten. Borchert hat selbst im Krieg gedient, wo er am Angriff auf die Sowjetunion teilnahm und sich eine Leberschädigung zuzog. In der Nachkriegszeit versuchte er, als Schauspieler oder Kabarettist zu arbeiten, verstarb allerdings bereits 1947 an den Folgen seiner Lebererkrankung.
Sein Drama Draußen vor der Tür gilt als kanonisches Werk der deutschen Nachkriegsliteratur, da es eines der ersten Werke ist, das unmittelbar nach dem Kriegsende entstand, das Schicksal eines heimkehrenden Soldaten behandelt und den Verlust von Heimat, Identität und Glauben an die Menschlichkeit thematisiert (Beutin et al. 2019, S. 612). Borchert nutzt den Protagonisten Beckmann, um der Gesellschaft einen Einblick in die Gedankenwelt eines ehemaligen Soldaten zu gewähren, welcher seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Auffällig ist, dass er dabei seine eigenen Erfahrungen in der Figur widerspiegelt. So versuchte auch Borchert, eine Anstellung als Kabarettist zu erlangen. Durch die aus der Sicht Beckmanns geschilderten Erlebnisse identifizierten sich viele mit der Figur, welche exemplarisch für die Kriegsheimkehrer steht, die an der inneren und äußeren Verwüstung verzweifelten. Borchert sprach damit den Menschen der damaligen Zeit aus der Seele und erhielt viel Zuspruch.
Auffällig ist, dass realistische und traumhafte Szenen häufig ineinander übergehen, wodurch die Grenzen zwischen äußerer Wirklichkeit und innerer Gedankenwelt verschwimmen. Dies wird vor allem durch die Gespräche mit „dem Anderen“ sichtbar, welcher als Gegenstimme des Bewusstseins fungiert und Beckmanns inneren Konflikt für die Zuschauer*innen sichtbar macht. Borcherts Schreibstil ist von sprachlicher Dichte und Direktheit geprägt. Er verwendet zahlreiche Metaphern und Personifikationen und stärkt dadurch den Eindruck einer von Schuld und Hoffnungslosigkeit bestimmten Welt. Die Verwendung der Alltagssprache vermittelt dem Leser das Gefühl von einer wirklichen und realistischen Welt.
Literaturangaben
- Beutin, Wolfgang / Matthias Beilein / Klaus Ehlert / Wolfgang Emmerich / Christine Kanz / Bernd Lutz / Volker Meid / Michael Opitz / Carola Opitz-Wiemers / Ralf Schnell / Peter Stein / Inge Stephan: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 9. Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 2019.
Ausgaben
- Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz. Hamburg: Rowohlt 1959. (Erw. und revid. Neuausg. Hg. v. Michael Töteberg. Reinbek: Rowohlt 2009). (SDP-Bibliothek, Signatur der Ausgabe von 1959: X-BO 70 1/3)
- Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Hg. v. Winfried Freund und Walburga Freund-Spork. Stuttgart: Reclam 1996. (SDP-Bibliothek, Signatur: E-5 13/319:102 Mag Reclam)
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Schröder, Claus: Draußen vor der Tür: Eine Wolfgang-Borchert-Biografie. Berlin: Henschelverlag 1988.
- Internationale Wolfgang-Borchert-Gesellschaft
Lesedauer
- Seitenzahl: 85 Seiten
- individuelle Lesezeit: ca. 2 Stunden
Leseprobe
(Abend. Blankenese. Man hört den Wind und das Wasser. Beckmann. Der Andere.)
BECKMANN.
Wer ist da? Mitten in der Nacht. Hier am Wasser. Hallo! Wer ist denn da?
DER ANDERE.
Ich.
BECKMANN.
Danke. Und wer ist das: ich?
DER ANDERE.
Ich bin der Andere.
BECKMANN.
Der Andere? Welcher Andere?
DER ANDERE.
Der von Gestern. Der von Früher. Der Andere von Immer. Der Jasager. Der Antworter.
BECKMANN.
Der von Früher? Von Immer? Du bist der Andere von der Schulbank, von der Eisenbahn? Der vom Treppenhaus?
DER ANDERE.
Der aus dem Schneesturm bei Smolensk. Und der aus dem Bunker bei Gorodok.
BECKMANN.
Und der – der von Stalingrad, der Andere, bist du der auch?
DER ANDERE.
Der auch. Und auch der von heute abend. Ich bin auch der Andere von morgen.
BECKMANN.
Morgen. Morgen gibt es nicht. Morgen ist ohne dich. Hau ab. Du hast kein Gesicht.
DER ANDERE.
Du wirst mich nicht los. Ich bin der Andere, der immer da ist: Morgen. An den Nachmittagen. Im Bett. Nachts.
BECKMANN.
Hau ab. Ich hab kein Bett. Ich lieg hier im Dreck.
DER ANDERE.
Ich bin auch der vom Dreck. Ich bin immer. Du wirst mich nicht los.
BECKMANN.
Du hast kein Gesicht. Geh weg.
DER ANDERE.
Du wirst mich nicht los. Ich habe tausend Gesichter. Ich bin die Stimme, die jeder kennt. Ich bin der Andere, der immer da ist. Der andere Mensch, der Antworter. Der lacht, wenn du weinst. Der antreibt, wenn du müde wirst, der Antreiber, der Heimliche, Unbequeme bin ich. Ich bin der Optimist, der an den Bösen das Gute sieht und die Lampen in der finstersten Finsternis. Ich bin der, der glaubt, der lacht, der liebt! Ich bin der, der weitermarschiert, auch wenn gehumpelt wird. Und der Ja sagt, wenn du Nein sagst, der Jasager bin ich. Und der –
BECKMANN.
Sag Ja, soviel wie du willst. Geh weg. Ich will dich nicht. Ich sage Nein. Nein. Nein. Geh weg. Ich sage Nein. Hörst du?
(Zitat aus der frei zugänglichen Leseprobe des Rowohlt Verlags; Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen. Reinbek 1957/2025, S. 12f.)
Was finde ich an dem Text interessant?
Das Drama Draußen vor der Tür wirkt beklemmend, da es einen intensiven Einblick in die düstere Gedankenwelt des Protagonisten Beckmann gewährt. Die Gespräche zwischen Beckmann und „dem Anderen“ tragen dazu bei, seine Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit deutlich hervorzuheben. Obwohl die Dialogsituationen zunächst befremdlich wirken, da unklar ist, wer oder was „der Andere“ genau ist, ermöglichen sie einen tieferen Zugang zu Beckmanns innerem Konflikt. Besonders betroffen macht seine Hilflosigkeit, da ihm trotz seiner verzweifelten Suche nach Verständnis und Mitgefühl niemand wirklich helfen will. Die Auseinandersetzung mit seinen Selbstmordgedanken und seiner existenziellen Verzweiflung sorgen dafür, dass ein nachhaltig bedrückender Eindruck entsteht.
Annika Bührmann (M.Edu.-Studierende)