Titel des Projekts
Sozialkapital – Eine metatheoretische und institutionelle Analyse eines wissenschaftlichen Paradigmas

Gegenstand und Fragestellungen
Das Thema "Sozialkapital" hat derzeit Konjunktur. Seine Anziehungskraft verdankt der Begriff nicht zuletzt der Tatsache, dass sich etwa solch populäre und unterschiedlich argumentierende Sozialwissenschaftler wie Pierre Bourdieu, Claus Offe, Robert D. Putnam, Ronald Inglehardt oder James S. Coleman dieses Konstruktes angenommen haben. Mit Blick auf regionale Antworten hinsichtlich globalpolitischer Herausforderungen glaubt insbesondere die Weltbank in Anlehnung an die Putnamschen Untersuchungen in den durch 'Sozialkapital' bezeichneten empirischen Phänomenen einen Grundpfeiler der weltweiten sozio-ökonomischen Entwicklungen erkannt zu haben und trägt damit ebenfalls zur wachsenden Beliebtheit des Begriffes bei. In ihren Datenbanken hält die Weltbank mittlerweile eine unüberschaubare Anzahl von Referenzen zur Thematik bereit. Die Fülle der vorliegenden Literatur sollte jedoch nicht über elementare Defizite der Diskussion hinwegtäuschen. Eine Theorie des Sozialkapitals, die uns die Ursachen seiner Entstehung und seine genaue Wirkungsweise stringent aufzeigen könnte, ist noch nicht vorhanden.
Dieses Defizit wird gerade auch durch die unzureichende semantische Schärfe verursacht, d.h. die dem Begriff Bedeutung zuweisenden Theorien/Modelle bestimmen 'Sozialkapital' vielfach ungenau, auf unterschiedlichen analytischen Ebenen oder sogar widersprüchlich. Folgt man dem linguistic turn der Erfahrungswissenschaften und begreift Erkenntnis als Problem der Sprache, so muss dies kritisch bewertet werden. Vor diesem Hintergrund befasst sich die Arbeit mit zwei unterschiedlichen, gleichwohl zusammenhängenden Forschungsfragen: (a) Welche Bedeutung wird dem Begriff Sozialkapital durch die Theoretiker zugewiesen und wie lässt sich aufbauend auf dieser Diskussion ein integratives Theoriemodell konstruieren? (b) Welcher soziale Prozess innerhalb des Wissenschaftssystems bewirkte die Institutionalisierung der Sozialkapitaldebatte?

Forschungsprogramm
Über eine 'rationale Rekonstruktion' wissenschaftlicher Theorien/Modelle wird auf einer metatheoretischen Ebene eine Klärung unterschiedlicher Begriffsbestimmungen (empirische Verwendungsanalyse) sowie eine bislang nicht erfolgte Ebenenverknüpfung zwischen mikro- und makrosoziologischen Definitionen zu leisten sein (analytische Modellbildung).
Ausgehend von der Prämisse, dass sozialwissenschaftliches Wissen Einfluss auf gesellschaftspolitische Entwicklungen nimmt wird in einem weiteren Schritt untersucht, warum der Sozialkapitalbegriff derzeit eine solch exponierte Position innerhalb des sozialpolitischen Diskurses einnimmt, d.h. der eine Institutionalisierung des Konzeptes bewirkende soziale Prozess ist Untersuchungsgegenstand (empirische Diskursanalyse). Während die metatheoretische Analyse also die Inhaltsseite des Sozialkapitalbegriffes zum Gegenstand hat, wird mit der wissenschaftssoziologischen / -philosophischen Betrachtung eine Antwort auf die Frage nach den Bestimmungsgrößen seiner derzeitigen Popularität und sozialpolitischen Wirkmächtigkeit angestrebt.
Mittels dieser dualen Analyse wissenschaftlicher Produkte ([a] begriffstheoretische Ebene, [b] Entstehungs- Entwicklungs- und Wirkungszusammenhänge) ist ebenfalls zu beantworten, inwiefern die mit dem Begriff etikettierten Entitäten sowie die mit den diversen Konzepten propagierten Zusammenhänge zuvor nicht in anderer, ähnlich erschöpfender oder sogar präziserer Art und Weise ausgedrückt wurden und falls ja, warum sich dann der neue Begriff bzw. das neue Konzept überhaupt durchsetzen konnte. Handelt es sich bei 'Sozialkapital' also um eine fundamentale, inkrementalistische oder etwa nur um eine redundante Rekonzeptualisierung vormaliger Paradigmen?

Bezug zum Oberthema des Graduiertenkollegs
Den Erosionstendenzen des Europäischen Sozialmodells versuchen Politiker wie Sozialwissenschaftler in jüngster Zeit über eine Stärkung von Subsidiarität und zivilgesellschaftlicher Orientierung zu begegnen. Insbesondere der Begriff des Sozialkapitals gilt mithin als 'magische Formel', die ein Äquivalent für wegbrechende traditionelle Steuerungs- und Integrationsfunktionen darstellen soll. Auffallend an der Diskussion ist gleichwohl die theoretische und empirische Heterogenität der Beiträge; nur unscharf ist erkennbar, was denn Sozialkapital nun eigentlich genau sein soll.
Vor diesem Hintergrund verfolgt die Arbeit das Ziel, die Debatte über den wissenschaftlichen Sinn und Nutzen des Sozialkapitalkonzeptes zu strukturieren sowie einer diffusen, präskriptiven und inflationären Begriffsverwendung entgegenzuwirken. Dabei sind folgende Probleme leitend: Wie ist 'Sozialkapital' jeweils definiert? Wie erhält der Begriff seine Bedeutung? Läßt sich seine empirische Referenz exakt bestimmen? Wie entsteht und wirkt Sozialkapital? Wo wird es gespeichert? Wie verbraucht es sich? Wie wird es symbolisiert? Auf welche Art und Weise wird es aggregiert? Nur bei Klärung dieser grundlegenden Fragen innerhalb des jeweiligen theoretischen Bezugsrahmens wird diskutierbar, inwiefern die mit 'Sozialkapital' bezeichneten Phänomene tatsächlich zur Reorganisation wohlfahrtsstaatlicher Leistungen beitragen können und wie sie willentlich politisch zu induzieren sind.