Forum for Economic Policy

Die vertragliche Austrittsoption: Neue Verhandlungsmacht für die EU-Mitgliedsländer?



Susanne Lechner, cege report, p. 3, October, 2008


Seit fast einem Jahr befindet sich der Vertrag von Lissabon im Ratifikationsprozess, der durch das (un)erwartete Nein der irischen Bevölkerung verlängert wurde. Ob das Vertragswerk bereits 2009 in Kraft treten wird, ist vermutlich erst nach der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 2008 abzuschätzen.


Dieser Vertrag beinhaltet im Vergleich zur bestehenden Rechtslage des Vertrages von Nizza Änderungen und Neuerungen, die die EU für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts institutionell und politisch stärken sollen. Ein Novum ist die explizite Austrittsoption (Art. 50), die es jedem Mitgliedsland ermöglicht, freiwillig und ohne Angabe von Gründen, den Staatenverbund zu verlassen. In der Betrachtung des bisherigen Integrationsprozesses kann festgestellt werden, dass seit der Gründung kein Staat die EU verlassen hat, so dass sich zwei berechtigte Fragen stellen: Weshalb sollte ein Austritt vertraglich verankert werden, und welche Relevanz besitzt eine rechtlich geregelte Austrittsoption tatsächlich?


Die institutionelle Verankerung des Austrittsrechtes birgt eine Vielzahl von Chancen als auch Risiken: Einerseits werden durch die Austrittsoption zum Beispiel übermäßi-ge Zentralisierungstendenzen der EU begrenzt und damit dem Prinzip der Subsidiarität Ausdruck verliehen. Der Vorwurf, die EU sei ein starres Gefüge, ist damit nicht mehr haltbar: Vielmehr wird dem Umstand Rechnung getragen, dass optimale Integrationsräume wie die EU eine systemimmanente Dynamik beinhalten, auf die nun flexibel – etwa durch einen Austritt – reagiert werden kann. Andererseits widerspricht die Austrittsmöglichkeit dem Konzept einer immer enger werdenden, dauerhaft angelegten Union. Die weitere Verflechtung der Mitgliedsländer untereinander und deren Solidarität zueinander könnte beeinträchtigt werden: Der Anreiz, etwa gemeinsame Leistungen zu erbringen, die in Form von öffentlichen Gütern bereit gestellt werden, sinkt, und die Notwendigkeit bei unterschiedlichen Präferenzen zu kooperieren entfällt, da die Mitgliedsländer nun im Sinne von Hirschman anstelle der Voice-Option auch die Exit-Option wahrnehmen können. Trotz der Risiken wurde die Austrittsmöglichkeit in den Vertrag aufgenommen, da es politisch nicht wünschenswert sei, einem Staat, der keine weitere Teilhabe am Integrationsprojekt EU wünscht, den Austritt zu verwehren.


Hinsichtlich der Relevanz der Austrittsoption könnten die jüngsten Entwicklungen im Ratifikationsprozess ein Bild davon vermitteln, welchen Stellenwert ein Austrittsrecht einnehmen könnte: Das (bisherige) Nein der Iren zum Reformvertrag und auch die kritische Haltung Polens und Tschechiens haben Ausschlag für Diskussionen gegeben, deren Spektrum vom Ausschluss der reformunwilligen Staaten bis hin zur Neugründung der Europäischen Union ohne die Blockierer reicht. Die Option des Austritts könnte hierbei eine ernstzunehmende Alternative zum Verbleib in der EU darstellen, etwa wenn exogene bzw. endogene Faktoren zu einer Modifizierung des bisherigen Kosten-Nutzen-Kalküls der EU-Mitgliedschaft führen. Ein Faktor sind beispielsweise die letzten Erweiterungsrunden, die dazu führten, dass die Mitgliedsländer in ihrer Zusammensetzung und ihren Präferenzen wesentlich hetero¬gener geworden sind, was sich unter anderem in erschwerten Ent-scheidungsfindungsprozessen widerspie¬gelt. Auch der Vertrag von Lissabon birgt Konfliktpotential: Durch die darin verankerte Aufwertung der Mehrheitsentschei-dungen besteht die Gefahr, dass bei zukünftigen Entscheidungen Mitgliedsländer verstärkt überstimmt werden und dadurch ihre bisherige Kosten-Nutzen-Bilanz der EU-Mitgliedschaft außer Balance gerät. Das Austrittsrecht als demokratisches Mittel erhält somit für die Mitgliedsländer praktische Relevanz: Sie können es als potentielles Drohinstrument nutzen, um von der EU Zugeständnisse zu erwirken und damit die eigene Nutzenposition zu verbessern. Erhalten somit möglicherweise die Mitgliedsländer durch die Austrittsoption Verhandlungsmacht im Sinne eines Vetorechtes bei Mehrheitsentscheidungen (zurück)?


Im Rahmen einer Analyse von Lechner/Ohr (2008)* wur-de dieser Fragestellung nachgegangen: Die EU trifft eine Entscheidung, die der Mehrheit ihrer Mitglieder zugute kommt. Ein Mitgliedsland erfährt durch die Entscheidung jedoch einen Nutzenverlust, für den es eine Kompensation fordert, an die bei Nichtgewährung der Austritt geknüpft ist. Es werden drei Abstimmungsszenarien betrachtet: Abstimmung mit Einstimmigkeit, Mehrheitsentscheidung ohne Austrittsoption und Mehrheitsentscheidung mit Austrittsoption. Mit Hilfe eines spieltheoretischen Ansatzes konnte aufgezeigt werden, dass im Falle der Abstimmung mit Einstimmigkeit höhere Kompensationszahlungen vonseiten der EU zu erwarten sind als etwa bei Mehrheitsabstimmungen mit der Austrittsoption. Marginale Kompensationszahlungen gehen mit der Austrittsoption ohne Austrittsmöglichkeit einher. Werden jedoch die Ergebnisse spieltheoretischer Experimente zugrunde gelegt, so kann der Transfer der EU im Falle einer Mehrheitsentscheidung mit Austrittsoption dem maximalen Transfer, den es bei Einstimmigkeit dem Mitgliedsland anbieten würde, entsprechen. Die Mitgliedsländer erhalten daher durch die Austrittsoption Verhandlungsmacht zurück, die sich in der Höhe des Transfers äußert, den die EU bereit ist, dem Mitgliedsland für seinen Verbleib zu zahlen: Indem es die Glaubwürdigkeit seiner Austrittsdrohung durch „Cheap Talk“ erhöht, kann das Mitgliedsland unter Umständen die Kompensationssumme nach oben treiben.


Mit der vertraglich geregelten Austrittsoption erhalten die Mitgliedsländer neue Verhandlungsmacht, die – im Ange-sicht der derzeitigen politischen Entwicklungen auf euro-päischer Ebene – den weiteren Integrationsprozess maß-geblich prägen kann.