Forum for Economic Policy

EU knabbert schwer an der Mehrwertsteuer



Robert Schwager, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim, March 31, 2000


Wieder einmal scheint ein europäischer Traum geplatzt zu sein. Die EU-Kommission, sonst der hartnäckigste Vorkämpfer der europäischen Einigung, hat ihren Plan aufgegeben, das Mehrwertsteuersystem der EU grundlegend zu reformieren. Das bisher propagierte Binnen­marktprinzip war gegen den Willen der Regierungen nicht durchsetzbar. Stattdessen schlägt Kommissar Bolkestein nun vor, sich auf kleinere Änderungen im administrativen Bereich zu beschränken. Es bleibt also bis auf weiteres bei der sogenannten, schon seit 1993 praktizierten „Übergangsregelung“.


Welche Handlungsmöglichkeiten stehen der EU nun offen? Die Besteuerung grenzüber­schreitender Lieferungen kann grundsätzlich nach zwei Prinzipien erfolgen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Lieferung im exportierenden Staat von der Steuer zu befreien und mit der Mehrwertsteuer des importierenden Landes zu belasten. Es stellt sich die Steuerbelastung des Importstaates ein, weshalb dieses System auch Bestimmungslandprinzip genannt wird. Alternativ dazu können Exporte der Mehrwertsteuer des Exportstaates unterworfen werden, während Importe im Bestimmungsland steuerfrei bleiben. Bei diesem System, dem Ursprungslandprinzip, ist der Steuersatz des Exportlandes maßgebend.


Die derzeit geltende Übergangsregelung ist eine Mischung aus beiden Systemen. Lieferungen zwischen Unternehmen werden ebenso wie der Versandhandel und Verkäufe von Kraftfahr­zeugen direkt an Konsumenten nach dem Bestimmungslandprinzip besteuert. Begibt sich jedoch der Endverbraucher selbst in das Land des Anbieters, so zahlt er die dort geltende Mehr­­wertsteuer; es kommt das Ursprungslandprinzip zur Anwendung.


Das Binnenmarktprinzip sah für den kommerziellen grenzüberschreitenden Handel vor, Lieferungen in ein anderes EU-Land der Mehrwertsteuer des Exportlandes zu unterwerfen. Im Gegenzug dazu sollte der importierende Unternehmer die im Verkaufspreis enthaltene ausländische Vorsteuer abziehen können. Durch diesen Vorsteuerabzug wird eine aus dem EU-Ausland bezogene Vorleistung faktisch von der ausländischen Steuer befreit. Nach Weiterverarbeitung wird sie dann mit dem Steuersatz des Importlandes belastet. Das Binnenmarktprinzip behält also für den Handel zwischen Unternehmen das Bestimmungs­landprinzip bei. Wenn die Kommission in diesem Zusammenhang vom „Ursprungsland­prinzip“ spricht, dann bezieht sie sich nicht auf die ökonomischen Wirkungen, sondern auf die Aufkommensverteilung. Derzeit erhält jenes Land die Mehrwertsteuer, in dem das Produkt letztlich verkauft wird, also der Importstaat, während es gemäß dem Reformvorschlag der Exportstaat wäre, so daß der Steuerertrag im Ursprungsland verbleiben würde.


Da sich beide Systeme in ihren Wirkungen nicht unterscheiden, würde ein Übergang zum Binnenmarktsystem an der relativen steuerlichen Belastung inländischer und ausländischer Erzeugnisse nichts ändern. Das Reformsystem wäre jedoch in Bezug auf den Verwaltungs­aufwand ein Fortschritt. Derzeit müssen Unternehmen nachweisen, welche Lieferungen in andere EU-Länder gegangen sind und welche im eigenen Land verblieben. Unter dem Binnenmarktprinzip wäre diese Unterscheidung unerheblich, da in jedem Fall die inländische Mehrwertsteuer anfällt.


Daß die Regierungen dem Charme dieser Vereinfachung nicht erlegen sind, hat handfeste fiskalische Gründe: Die Staaten mit Importüberschüssen hätten erhebliche Aufkommens­einbußen hinnehmen müssen. Die Kommission hat deshalb die Einrichtung einer Clearingstelle vorgeschlagen. Sie sollte die durch die Reform verursachte Aufkommens­verlagerung wieder rückgängig machen. Um die dafür nötigen Zahlungen zu ermitteln, hätte man aber den gesamten innergemeinschaftlichen Handel dokumentieren müssen, so daß der administrative Vorteil des Binnenmarktsystems wieder zunichte gemacht worden wäre.


Ein solches Clearingverfahren hätte zudem wohl eine neue europäische Behörde nach sich gezogen, die über die Verteilung des Steueraufkommens zu entscheiden hätte - mit allen Manipulationsmöglichkeiten, die statistischen Auswertungen innewohnen. Dies wäre, gleichsam auf dem Verwaltungswege, der Einstieg in einen europäischen Finanzausgleich gewesen. Es ist nur zu verständlich, daß die Regierungen dies ablehnen.




Kampf gegen Steuerhinterziehung


Welche Entwicklung sollte aber das europäische Mehrwertsteuersystem nun stattdessen nehmen? Sicherlich ist eine verstärkte Zusammenarbeit der Finanzbehörden, wie sie jetzt von der Kommission vorgeschlagen wird, im Kampf gegen Steuerhinterziehung sinnvoll, und eine einheitlichere Auslegung von Vorschriften sorgt darüber hinaus für Rechtssicherheit. Diese Maßnahmen ändern jedoch nichts an der grundlegenden Funktionsweise der Übergangs­regelung, die nicht nur wegen des Verwaltungsaufwandes für die Unternehmen unbefrie­digend ist. Schwerer wiegt die unterschiedliche Behandlung von kommerziellen und nicht-kommerziellen Lieferungen. Während Konsumgüter mit dem Steuersatz des Ursprungslandes belastet werden, gilt für Zwischenprodukte der Steuersatz des Bestimmungs­landes. Dies führt dazu, daß Hochsteuerländer sich auf die Herstellung von Zwischen­produkten spezialisieren, Niedrigsteuerländer dagegen auf die Produktion von Gütern, die direkt an Endverbraucher verkauft werden. Es kommt zu einer rein steuerlich bedingten und deshalb ineffizienten Veränderung der Produktionsstruktur.




Problem Internet-Handel


Eine Rückkehr zum Bestimmungslandprinzip auch bei Verkäufen an Endverbraucher ist ausgeschlossen, weil dies Grenzkontrollen erfordern würde. Dagegen spricht auch die zunehmende Bedeutung des elektronischen Handels, da beim Versand von Software über das Internet niemand den Wohnsitz des Abnehmers feststellen kann. Die beste Alternative ist der Übergang zu einem echten Ursprungslandprinzip, in dem auch kommerzielle Lieferungen mit dem Steuersatz des Exportstaates belastet werden. Dies führt zu einer steuerlichen Gleichbehandlung von Zwischen- und Endprodukten. Gegen das Ursprungslandprinzip wird oft eingewandt, daß es die Anbieter aus Hochsteuerländern benachteilige, da ihre Waren sich im Binnenmarkt nicht gegen die niedriger belastete Konkurrenz behaupten könnten. Diese Argumentation übersieht jedoch, daß eine allgemeine Verbrauchssteuer wie die Mehrwert­steuer letztlich von den Produktionsfaktoren, insbesondere den Arbeitnehmern, getragen werden muß.


Unternehmen in Hochsteuerländern können die höhere Mehrwertsteuer auf ihre Lieferanten umwälzen und haben deshalb keine Wettbewerbsnachteile zu befürchten. Darüber hinaus ist ein einheitliches Ursprungslandprinzip administrativ ebenso einfach zu handhaben wie das jetzt aufgegebene Binnenmarktprinzip. Als einziges Problem bleibt die Aufkommens­verschiebung hin zu den Exportstaaten. Diese ist nicht zu vermeiden, will man sich nicht den politischen Unwägbarkeiten eines Clearingsystems ausliefern. Es ist aber nicht einzusehen, warum die jetzige Steuerverteilung unantastbar sein sollte. Im Gegenteil: Es wäre schade, wenn eine rein fiskalische Sichtweise der Regierungen einer effizienzorientierten Reform des europäischen Mehrwertsteuersystems auf Dauer im Wege stehen würde.