Forum for Economic Policy

Gelockerter Ladenschluss belebt den Föderalismus



Thiess Büttner and Robert Schwager, Handelsblatt, October 18, 1999


Das jüngst veröffentlichte Gutachten des Münchner Ifo-Instituts hat die Diskussion um das Ladenschlussgesetz wieder aufflammen lassen. Neben den bekannten ordnungspolitischen Argumenten gegen staatliche Regulierung enthält dieses Gutachten einen bemerkenswerten Reformvorschlag: Die Entscheidungskompetenz über die Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen soll, so die Münchner Wirtschaftsforscher, den Kommunen übertragen werden. Diese Forderung trifft bei den Vertretern der Städte und Gemeinden auf Zustimmung, und auch der sächsische Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) plädiert für eine Abkehr von der bundeseinheitlichen Regelung.


Die Auswirkungen einer solchen Reform konnte man im vergangenen Sommer beobachten. Damals war der Ifo-Vorschlag vorübergehend bereits Realität, nachdem einige ostdeutsche Städte, zum Teil unterstützt von ihren Landesregierungen, durch kreative Gesetzesauslegung ganz einfach die Kompetenz zur Regelung des Ladenschlusses an sich gezogen hatten. Angesichts der Rechtslage ist es nicht erstaunlich, dass dieses eigenmächtige Vorgehen von den Gerichten weitgehend gestoppt wurde. Dennoch haben die Erfahrungen im Sommer gezeigt, welche Dynamik eine dezentrale Regelung der Öffnungszeiten entfalten kann. Kommunen, Einzelhändler und Kunden haben auf der politischen Bühne ein Lehrstück aufgeführt, in dem das verborgene Potential des beinahe tot geglaubten deutschen Föderalismus sichtbar wird.


Lange wurde debattiert, ob es richtig und notwendig ist, am Sonntag einzukaufen, und ob die Möglichkeit dazu überhaupt von einer nennenswerten Zahl von Kunden in Anspruch genommen würde. Die Fernsehbilder von überfüllten Geschäften und die Nachrichten von großen Umsatzerfolgen haben diese Frage deutlicher geklärt, als es jede Studie vermag.


Der große Kundenandrang im Sommer hat der ganzen Republik vor Augen geführt, wie wichtig die Sonntagsöffnung einem Teil der Bevölkerung ist. Sicherlich hätte man auch im Ausland feststellen können, dass ein liberalisiertes Ladenschlussrecht Akzeptanz findet. Of-fenbar ist die Anschauung im eigenen Land aber viel wirkungsvoller als Berichte aus dem Ausland – selbst wenn es sich dabei um kulturell durchaus vergleichbare Länder handelt wie beispielsweise die Niederlande. Die neue, nationale Erfahrung zeigt Befürwortern wie Gegnern des Ladenschlussgesetzes nun ganz unmittelbar, dass eine Lockerung möglich ist und welche Akzeptanz sie findet. Dies verdeutlicht die Rolle des föderalen Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren für gesellschaftliche Reformen. Was an einer Stelle Erfolg hat, verbrei-tet sich im ganzen Land.


Die Dynamik des Föderalismus erschöpft sich aber nicht darin, dass Informationen über neue Wege und Möglichkeiten der Administration verbreitet werden. Vielmehr entsteht auch ein Druck, sie umzusetzen. Solange in Leipzig die Geschäfte am Sonntag geöffnet waren, mussten einkaufswillige Hallenser nur die wenigen Kilometer bis in die Nachbarstadt fahren.


Durch die räumliche Nähe entsteht die Freiheit, sich ganz persönlich für ein Regulierungssystem zu entscheiden. Der Wettbewerb der Einzelhandelsstandorte führt so zu einem Domino-Effekt: Um den Kaufkraftabfluß zu verhindern, haben sich Einzelhändler und Stadtverwaltung auch in Halle für die Öffnung am Sonntag entschieden. Um Halles Konkurrenz entgegenzutreten, wurden daraufhin in Dessau und Magdeburg Anläufe unternommen, am Sonntag zu öffnen.


Man mag darüber spekulieren, warum Ostdeutschland bei der Ladenöffnung am Sonntag die Vorreiterrolle übernommen hat. Vielleicht ist das Einkaufserlebnis auch im zehnten Jahr nach der Wende für die ostdeutsche Bevölkerung noch von besonderer Bedeutung, oder das geringere Gewicht von Gewerkschaften, Kirchen und Vereinen sorgt dafür, dass das Interesse an der Sonntagsruhe eine geringere Rolle spielt.


Wie auch immer: wenn in den neuen Bundesländern tatsächlich die Vor- und Nachteile einer Lockerung des Ladenschlussgesetzes anders bewertet werden als in Westdeutschland, dann bietet sich eine länderspezifische Regelung an. Die Möglichkeit, staatliche Maßnahmen an den regional unterschiedlichen Wünschen auszurichten, ist ja gerade das Kernstück eines wettbewerblichen Föderalismus. Wenn die Wünsche regional verschieden sind, dann muss und soll es aus Sicht der Föderalismustheorie keine einheitliche Regelung geben. Jede Region kann dann nach ihrer Façon selig werden.


Mit einer dezentralen Kompetenz in der Regulierung der Ladenöffnungszeiten kann sich dann erweisen, ob das Ladenschlussgesetz auch im Westen als unzumutbare Beschränkung aufgefasst wird. Wenn das der Fall ist, würde schließlich die flächendeckende vollständige Deregulierung der Öffnungszeiten folgen. Im Unterschied zu einer einfachen Abschaffung des Gesetzes von oben wäre das Ladenschlussgesetz dann aber offenkundig obsolet. Die Befürworter des Ladenschlussgesetzes sind wohl aus diesem Grund von der reformerischen Kraft des Föderalismus alarmiert. Wenn es den Interessen der Bürger entgegenläuft, lässt sich das Gesetz nur durch eine zentrale Regelung aufrechterhalten. Freilich ist zu berücksichtigen, dass der Domino-Effekt die Gestaltungsfreiheit einzelner Kommunen auch dort einschränkt, wo eine Regulierung der Öffnungszeiten im Prinzip von den Bürgern einer Gemeinde gewünscht wird. Denn unter Umständen kann auch der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn einfällt, seine Geschäfte zu öffnen. Immerhin stünde es den Gemeinden bei einer Regulierung des Ladenschlusses auf kommunaler Ebene frei, die Interessen des ortsansässigen Einzelhandels für die Sonntagsruhe zu opfern, die dann immerhin lokal noch gewährleistet wäre.


Nach dem Föderalismusprinzip ist hier aber eine bessere Lösung denkbar: Entweder treten die Kommunen in Verhandlungen, oder die übergeordnete Landesebene beschließt eine einheitliche Regelung. Auf Länderebene jedenfalls würde der Druck, auf eine Liberalisierung des Ladenschlusses in der Nachbarschaft ebenfalls durch eine Lockerung reagieren müssen, geringer ausfallen. Die Problematik unerwünschter Nachbarschaftseffekte würde dann zu einem Randproblem. Nur in jenen Ballungsräumen, durch die Landesgrenzen verlaufen, käme es noch zu solchen störenden Nachbarschaftseffekten, weil es eben nur dort bequem ist, unterschiedliche Regelungen auszunutzen. So blieb auch im Einkaufsspektakel des Sommers der Domino-Effekt regional auf Ostdeutschland begrenzt. Eine Regelung auf Landesebene ist von daher besonders sinnvoll, wenn es gilt, die Vorteile des Wettbewerbsföderalismus mit dem Schutz vor ungewünschten Nachbarschaftseffekten zu verbinden.


Am Beispiel der Regulierung der Öffnungszeiten wird deutlich, wie der Föderalismus die Politik beeinflußt. Maßnahmen, die den einzelnen belasten, ohne ihm spürbare Vorteile zu bringen, müssen zentral durchgesetzt werden. Insofern geht es letztlich um eine Grundfrage der deutschen Wirtschaftspolitik: Wie weit soll der Staat im Interesse von gesamtgesellschaftlichen Werten wie der Sonntagsruhe in die Rechte des Einzelnen eingreifen, und so möglicherweise die Eigenverantwortlichkeit und die wirtschaftliche Dynamik bremsen? In dieser Auseinandersetzung stärkt eine Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen die Position der individuellen Handlungsfreiheit, und sie macht es schwerer, Regulierungen durchzusetzen. So wird die Haltung zum Föderalismus wesentlich von der Einstellung zu dieser ordnungspolitischen Grundfrage geprägt. Wer vor allem die Schutzmaßnahmen erhalten will, wird Ländern und Gemeinden so wenig Eigenständigkeit wie möglich zugestehen.


Wer dagegen den Wettbewerbsgedanken in Deutschland stärken will, sollte sich die Dynamik einer Dezentralisierung der Politik zunutze machen. Freilich setzt die größere Eigenständigkeit auch eine noch stärkere Verantwortlichkeit der Politiker gegenüber Bürgern und Investoren voraus. Ob die Politiker diese wirklich wahrnehmen wollen, ist offen. Insofern bleibt es dahin gestellt, ob das Aufscheinen des Föderalismus in diesem Sommer ein bloßes Wetterleuchten bleibt oder ob wir wirklich am Anfang einer Dezentralisierung und einer deutlichen Stärkung des föderalen Wettbewerbs in Deutschland stehen.